Die Waffen der Frauen – und ihre „stille Macht“ als gleichnamiges Theaterstück im Großen Dramentheater St. Petersburg. Foto: ITAR-TASS
Vom russischen Volkslied heißt es, es sei wie ein Stausee: auf der Oberfläche still und scheinbar unbewegt, aber in der Tiefe, da sprudele es unaufhörlich aus vielen Quellen. In Elena Chizhovas Roman „Die stille Macht der Frauen" bricht das dramatische Element erst spät unter der ruhigen Oberfläche hervor, wie ein unterirdischer Strudel, den vorher niemand bemerkte.
Denn das Leben der Arbeiterin Antonina scheint ziemlich normal. Die junge Frau vom Land zieht mit ihrem unehelichen Kind in eine
Russische Schriftstellerin Elena Chizhova. Foto: RIA Novosti.
Gemeinschaftswohnung in Leningrad. Die Kommunalka, in der noch drei alte Frauen leben, bedeutet für sie großes Glück: ein kleines Zimmer für sie und Susanna ganz allein, Küche und WC für alle. Die Mühen des sowjetischen Alltags der 1950er- und 60er-Jahre ist sie gewohnt, auch den Stress zwischen Fabrik, Krippe und krankem Kind, nur der Druck des Kollektivs, das die Tochter in staatliche Fürsorge zwingen will, macht ihr Sorge. Denn Susanna ist stumm, ohne individuelle Förderung wird sie keine Zukunft haben im sowjetischen System. Da bieten die drei alten Frauen ihre Hilfe an und übernehmen Susannas Pflege und Erziehung. Mit ihnen zieht eine poetische Gegenwelt der Mythen und Märchen ins Leben des sprachlosen, aber aufgeweckten Kindes ein. Die drei Babuschki Ariadna, Jewdokija und Glikerija sind es auch, die eine rettende Lösung ersinnen, als Antonina schwer erkrankt ...
Die Fragen nach den Quellen des Lebens und des menschlichen Schicksals sind von jeher Gegenstand von Mythen und Märchen. Durch die sowjetischen Babuschki schimmern die drei greisen Spinnerinnen aus der slawischen Mythologie. Immerzu sitzen sie überm Garn, sie stricken und nähen, entwirren, wickeln und knoten. Erzählend spinnen sie die Fäden und weben das Schicksal. Das stumme Kind ergreift den Faden, der vom Urquell der Weisheit im russischen Taubenbuch herrührt – wo sich Wahrheit (prawda) und Trug (kriwda) zwischen Himmel und Erde mörderisch bekämpfen – und spinnt ihn weiter bis zu ihrer späteren Entfaltung als erfolgreiche (und sprechende) Malerin. Doch da befinden wir uns bereits in einer neuen Zeit, der postsowjetischen.
„Die stille Macht der Frauen" wird strukturiert durch eine kunstvoll verwobene Polyphonie von Stimmen aus dem Volk. Die Hauptstimme, der innere Bewusstseinsstrom von Antonina, wird durchbrochen von der Stimme ihrer Tochter und der Frauen; männliche Stimmen sind sparsam gesetzt. Elena Chizhova reiht sich damit meisterhaft ein in die russische Erzähltradition des „skaz", der stilisierten direkten Rede, die auf soziale Herkunft, Umfeld und Weltsicht schließen lässt. Die sehr verknappte Ausdrucksweise der Personen ist typisch für die russische Alltagssprache, gehört aber auch zur Spezifik jener Zeit, in der viele Ereignisse nur angedeutet wurden – aus Angst vor Denunziation und vor den Schrecken der Nachkriegsjahre.
Die Tragödie von Leningrad zieht sich durchs ganze 20. Jahrhundert, das menschliche Leid gehörte zum Alltag. Revolutionen, Bürgerkrieg, der
Elena Chizhova: „Die stille Macht der Frauen". Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Deutscher Taschenbuch Verlag 2012.
Große Terror, die Blockade im Zweiten Weltkrieg – sie merzten fast alle Männer aus. „Normal" war es, wenn Väter, Männer und Söhne im Krieg fielen oder in der Blockade verhungerten, nicht normal, wenn sie Opfer der sowjetischen Repressionen wurden. Auch Antonias Geliebter gehört zu ihnen. Zurück blieben alte Frauen, „eiserne Babuschki", deren harte Schale erst aufbrechen muss. Dann allerdings zeigt sich, dass sie die Quellen des Lebens hüten, wie ihre Schwestern, die römischen Parzen, die griechischen Moiren oder die germanischen Nornen. Chizhovas Roman erzählt völlig unsentimental und doch höchst komplex, tiefgründig und zu Tränen rührend. Dorothea Trottenberg schlägt behutsam die Brücke von der spezifischen sowjetischen Erfahrungswelt und der kryptischen russischen Volkssprache – die zum Schwierigsten überhaupt für Übersetzer zählt – zum deutlich mehr Raum und Auflösung verlangenden Deutschen.
Ruth Wyneken ist Autorin, Regisseurin und Übersetzerin. Von 2004 bis 2010 war sie Lehrbeauftragte am Institut für Theaterwissenschaft in Berlin.
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