Tauwetter im russischen Kino

Spielszene aus dem  Film "Winter,geh weg". Foto: Pressebild.

Spielszene aus dem Film "Winter,geh weg". Foto: Pressebild.

Seit Andrej Swjaginzews „Die Rückkehr“ 2003 den „Goldenen Löwen“ holte, haben russische Filmemacher neues Selbstvertrauen. Aktuelle Filme gibt es in Berlin und Cottbus zu sehen.

Ein Mann steht wartend an einer Hausecke in der Dämmerung und raucht eine Zigarette. Ihm entgegen kommen, ohne bedrohliche Absicht, vier Jugendliche. Einer ruft einen Gruß. Der Mann zieht blitzschnell eine Pistole und erschießt die vier. Das nächste Mal sehen wir ihn entspannt im Vorraum einer Sauna am Tisch bei gesalzenem Fisch und Bier, wie er einem Freund erzählt, er habe letzte Nacht ein paar Bastarde erschossen, dann sei er zur Beichte gegangen.

Es ist die Anfangsszene aus Alexej Balabanows „Ich will auch", dem Abschlussfilm des diesjährigen Cottbusser Filmfestivals. Im Programm finden sich dieses Jahr unter einer Auslese anderer osteuropäischer Filme mehrere Vertreter der russischen Neuen Welle, zu deren Paten Balabanow gezählt wird.

Michail Segals „Erzählungen", ein Film, der sowohl in Cottbus als auch auf der Russischen Filmwoche in Berlin Anfang Dezember zu sehen sein wird, nutzt eine Fabel, um Nadelstiche zu setzen: vier Kurzgeschichten, abgegeben von einem jungen Schriftsteller in einem Verlagshaus, beginnen die Leben der Menschen zu verändern, die sie lesen.

Verräter oder Held?

Sergej Loznitsas „Im Nebel" verfolgt das Schicksal eines Bahnarbeiters, der unter deutscher Besatzung 1942 zusammen mit einigen Kameraden

Vom 6. bis zum 11. November öffnet das Festival des osteuropäischen Films in Cottbus zum 22. Mal seine Tore. Freunden des russischen Kinos ist ein Thementag gewidmet: der „Russkij Djen" am 7. November.

der Sabotage verdächtigt wird. Als die Saboteure gehängt werden, er aber gehen darf, wird er bald darauf von einem Exekutionskommando der Partisanen aufgesucht. Für diese steht außer Frage, dass er ein Verräter ist und deshalb freigelassen wurde. Auch dieser Film gefällt durch seine andere Perspektive – es geht nicht um eine Neuauflage antideutscher Antagonismen, sondern um einfache Menschen vor großen Fragen: Überleben oder Prinzipien folgen? Wegschauen oder Hinsehen? Frei von Schuld bleiben oder das persönliche Glück suchen? Eine klare Position bezieht „Winter, geh weg", eine dokumentarische Anthologie von zehn Moskauer Regieschülern über die Protestbewegung des letzten Winters. Doch was zeichnet die Neue Welle aus? Ist sie, wie der Name suggeriert, ein Pendant zur französischen Nouvelle Vague der 60er-Jahre?

Jenseits des Mainstream

Das sowjetische Filmgeschäft war stark reglementiert, Regisseure wussten, an welche Vorgaben sie sich zu halten hatten. Als sich 1991

Vom 28. November bis 5. Dezember zeigt die 8. Russische Filmwoche in Berlin die Vielfalt des aktuellen russischen Kinos. Eröffnung ist im Kino International.

auch die rein staatliche Filmindustrie auflöste, wuchsen Filmemacher heran, die ohne staatliche Regeln, aber auch ohne staatliche Unterstützung auskommen mussten. Regisseure wie Andrej Swjaginzew („Die Rückkehr"), Boris Chlebnikow („Verrückte Rettung"), Awdotya Smirnova („Kokoko") und Michail Segal verbindet inhaltlich und stilistisch nur das Anderssein und die Umstände, unter denen sie ihre Filme machen. Etwa seit 2009 werden ihre Arbeiten als „Neue Welle" bezeichnet. Mit den französischen Regierebellen der 60er verbindet sie die Bereitschaft zum Film jenseits des Mainstream und die Lust am Experiment. Anders als Chabrol und Godard in Frankreich sind die Namen der russischen Regisseure jedoch nicht allgemein bekannt. Ihr Blick auf die Gegenwart und die Vergangenheit Russlands ist frei von der lange vorherrschenden Selbstglorifizierung.

Auf internationalen Filmfestivals sind sie gern gesehen, aber Publikumserfolge werden ihre Filme zu Hause eher selten, den Kinobesuchern erscheinen sie zu deprimierend-realistisch, schließlich können die Russen die in den Filmen gezeigte Gegenwart auch sehen, wenn sie aus dem Fenster schauen.

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