Anwalt Henry Reznik: "Die Richter in Russland sehen sich selbst als Vertreter der Staatsanwaltschaft". Foto: RIA Novosti
Russland HEUTE: Wie steht es um das Prestige juristischer Berufe in Russland?
Henry Reznik: Traditionell haben bei uns das Gesetz und folglich auch die damit verbundenen Berufe kein hohes Ansehen. Es gilt der Mechanismus: Im Gedächtnis der Menschen bleiben in erster Linie negative Beispiele haften. Auf dieser Grundlage bildet sich dann die
Henry Reznik wurde am 11. Mai 1938 in Leningrad geboren. In seiner Jugend feierte er als Volleyballer und Hochspringer Erfolge. Später studierte er Recht und arbeitete zunächst als Ermittlungsbeamter, später als Rechtswissenschaftler. Seit 1985 ist Reznik Anwalt in Moskau.
Zu seinen Klienten gehören Prominente aus Politik und Wirtschaft ebenso wie Menschenrechtler.
Seit 2002 ist er Präsident der Moskauer Anwaltskammer und heute nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes WZIOM der angesehenste Anwalt des Landes.
öffentliche Meinung. Da sind etliche Verfahren, bei denen die Schuldfrage nicht geklärt werden konnte, aber wo dennoch ein Schuldspruch gefällt wurde. Bei unseren Berufsrichtern findet die Unschuldsvermutung kaum Anwendung. Es gibt sehr viele politisch motivierte oder aber auch korrupte Verfahren. Und gerade diese Fälle werden landesweit bekannt. Man erinnert sich an sie, sie bilden die Grundlage für das Bild, das man sich über unseren Berufsstand macht. Und wenn dann etwa der Fall Chodorkowski verhandelt wird und alle die eindeutige Ungerechtigkeit dieser Gerichtsfarce sehen, wird dieses Bild automatisch auf das gesamte Rechtssystem übertragen. Hier kann ein fauler Apfel den ganzen Korb verderben.
Zeichnen sich unsere Gerichte immer noch durch ihren Hang zur Anklage aus?
Ja, der repressive Ansatz ist immer noch vorhanden. Wenn ein Ankläger einen Prozessantrag stellt, wird dieser in über 90 Prozent der Fälle befürwortet. Die Richter sehen sich selbst nicht als Vertreter einer Judikative, als unabhängige dritte Gewalt, so wie es in der Verfassung steht, sondern eher mit den operativen Polizeikräften, den Ermittlungsbehörden und der Staatsanwaltschaft als Teil einer Mannschaft, die die Interessen des Staates vertritt. Eigentlich sind es Staatsbeamte in Roben.
Damit sich in der Praxis etwas ändert, muss sich das Plenum des Obersten Gerichtshofs entsprechend positionieren. An ihm orientieren sich die Richter.
Wie im Falle des Geschäftsmannes Alexej Koslow gab der Oberste Gerichtshof das Verfahren zur Neuverhandlung an die untergeordnete Instanz zurück, was viele als direkten Hinweis auffassten, dass das ursprüngliche Urteil ungerecht gewesen sei. Dennoch revidierte die untergeordnete Instanz ihren ursprünglichen Beschluss nicht.
Hier hat sich die Situation geändert, und zwar nicht zum Besseren. Zu Zeiten der Sowjetunion sahen die untergeordneten Instanzen die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs als maßgebend an. Doch für eine Reihe unserer heutigen Gerichte, zum Beispiel auch für das Moskauer Landesgericht, ist die Meinung von Geheimdienst, Innenministerium und Staatsanwaltschaft von größerer Bedeutung.
Aber den konkreten Fall Koslow kann ich nicht kommentieren, da ich zu Verfahren, in die ich persönlich nicht involviert war, keine Stellung beziehe. Ausnahmen mache ich sehr selten, wie zum Beispiel beim Fall Pussy Riot. Die Behörden haben sich hier äußerst unklug benommen. Es ging nicht darum, etwas zu beweisen, sondern um die juristische Beurteilung einer Tat. Das ist ein beispielloses juristisches Know-how, das ich selbst in der Sowjetunion nicht erlebt habe.
Ich habe einen Artikel verfasst: „Apotheose der Ungerechtigkeit“. Wegen solcher Fälle verlieren unsere Gerichte den letzten Rest ihrer Unabhängigkeit und unterwerfen sich entweder den Interessen der Regierung, wie im Falle von Pussy Riot, oder aber biedern sich der öffentlichen Meinung an, wie im Fall Mirsajew.
Nehmen wir Pussy Riot. Was kann ein Anwalt tun, wenn das Verfahren „bestellt“ ist, wenn das Ende des Prozesses schon am Anfang allen klar ist?
Da stellt sich die Frage, auf welcher Ebene, in welcher Instanz es
„bestellt“ wurde. In der ersten Instanz weiß der Richter, was er zu tun hat, bleibt aber ansonsten einigermaßen fair. Ihm wird gesagt, dass es einen Schuldspruch geben soll – und er schwächt ihn ein wenig ab. Aber das Leben ist lang: Es kommt die Berufung, die Zeit vergeht, die Situation ändert sich. Und es gibt die Revision: im städtischen Gericht, im Landesgericht, dann im Obersten Gerichtshof. Sehr viele „bestellte“ Gerichtsverfahren habe ich über die Revision gewonnen. Die Situation hatte sich eben geändert. Und in den Revisionsverfahren, bei denen die Gerichte meist unabhängig sind, wurden Entscheidungen getroffen, die wirklich alle verwundert haben ...
Kann man Judikative und Exekutive nicht gesetzlich besser voneinander trennen?
Im Strafrecht müssen Geschworenen- oder Schöffengerichte etabliert werden. Normale Gerichte sprechen etwa ein Prozent der Angeklagten frei, Geschworenengerichte dagegen 15 bis 16 Prozent. Außerdem müssen alternative Methoden der Streitschlichtung wie Mediationsverfahren und Schiedsgerichte weiterentwickelt werden. Die Gesetzgebung selbst ist bei uns gar nicht so schlecht, nur an der Umsetzung hapert es.
Im vergangenen Jahr wurde auf Initiative von Dmitri Medwedjew die Strafgesetzordnung in einigen Punkten liberalisiert. Hat sich in der Praxis etwas geändert?
Ja, in manchen Dingen hat sich etwas geändert. Zum Beispiel wurde die Untersuchungshaft bei Wirtschaftsdelikten abgeschafft. Das bedeutet, dass die Zahl der Inhaftierten während der Voruntersuchungsverfahren um 20 Prozent gesunken ist.
Die Wirtschaftsdelikte hatten sich schließlich in richtiggehende Futternäpfe für unsere Strafverfolger entwickelt: Es wurde ein Verfahren eingeleitet, der Unternehmer verhaftet und sein Gefängnisaufenthalt dafür genutzt, ihm das Unternehmen wegzunehmen oder ein entsprechendes Lösegeld von ihm zu verlangen.
Das Entscheidende ist, dass die Ermittler nun keine formelle Möglichkeit mehr haben, sich direkt an das Gericht zu wenden. Zum anderen wird der Freiheitsentzug als Sanktion nun auch seltener verhängt und immer häufiger durch einen Strafbefehl ersetzt. Beides ist ausgesprochen positiv zu bewerten.
Wo sind heute die jungen russischen Anwälte?
Die Anwaltschaft eines jeden Landes, das in Richtung Marktwirtschaft geht, durchläuft die gleiche Entwicklung: Es bildet sich eine Anwaltschaft für die Geschäftswelt heraus. Und viele junge und begabte Anwälte treffe ich im Schiedsgericht und nicht etwa in den Gerichten der Zivilgerichtsbarkeit. Denn hier wird erstens besser gezahlt und zweitens gibt es mehr Möglichkeiten, sich als Anwalt zu etablieren. Wenn es um die talentierten jungen Anwälte geht, muss man also in den Schiedsgerichten suchen.
Woher kommen eigentlich in Russland die Richter?
In Russland unterscheidet sich die Situation grundlegend von dem, was in Europa üblich ist. In Europa werden die Richterkollegien im Wesentlichen aus Anwälten und Juristen aus privaten Anwaltskanzleien gebildet. Dort geht man davon aus, dass der Richterposten der Höhepunkt der beruflichen Laufbahn ist.
In Russland entstammt weniger als ein Prozent der föderalen Richter der Anwaltschaft. Wesentlich mehr Richter kommen aus der Exekutive und aus der Staatsanwaltschaft. Das ist ein Desaster! Diese Leute muss man nicht erst anrufen, um ihnen irgendwelche Hinweise oder Anweisungen zu geben – selbst wenn sie sich ihre Robe überziehen, verwandeln sie sich nicht in einen Richter, sie bleiben immer Staatsanwalt. Sie sind von vorneherein auf einen Schuldspruch eingestellt.
Dieses Interview erschien zuerst im Magazin Russki Reporter.
Der Fall Koslow
Foto: RIA Novosti.
Der Geschäftsmann Aleksej Koslow (auf dem Foto mit seiner Frau, der Journalistin Olga Romanowa) wurde 2008 wegen Verdachts auf Unterschlagung von 33,4 Prozent der Aktien seines Partners Wladimir Sluzker, damals Senator der Republik Tschuwaschien, festgenommen und 2009 zu acht Jahren Haft verurteilt. Der Oberste Gerichtshof veranlasste eine Wiederaufnahme des Verfahrens. 2012 wurde Koslow erneut verurteilt – zu fünf Jahren Haft. Der Prozess erhielt große Resonanz, nachdem Romanowa im Internet das Gefängnistagebuch ihres Mannes veröffentlicht hatte. Sie ist überzeugt, dass das Verfahren von Sluzker gesteuert wurde.
Der Fall Mirsajew
Foto: ITAR-TASS.
Im Sommer 2011 schlug Ruslan Mirsajew, ein aus Dagestan stammender Kampfsportweltmeister, im Zuge eines Streits vor einem Moskauer Club den neunzehnjährigen Studenten Iwan Agafonow nieder. Dieser starb drei Tage später. Ein halbes Jahr später verkündete ein Moskauer Gericht ein Urteil, das in der russischen Öffentlichkeit Wogen schlug: Mirsajew sollte gegen eine Kaution aus der U-Haft entlassen werden. Einen Tag später hob ein anderes Gericht das Urteil auf. Nach mehreren Expertisen zieht sich nun der Prozess in die Länge, Mirsajew ist weiter in Untersuchungshaft.
Der Fall Pussy Riot
Foto: Kommersant.
Am 21. Februar 2012 sangen Mitglieder der Punkband Pussy Riot in der Moskauer Christi-Erlöser-Kathedrale ein „Punkgebet" und riefen dabei: „Heilige Muttergottes, vertreibe Putin!" Wenig später erschien im Internet ein Musikclip mit ihrem Auftritt. Im März wurden drei Bandmitglieder verhaftet. Umfragen zufolge befürwortete der Großteil der russischen Bevölkerung eine Verurteilung der Künstlerinnen. Amnesty International erklärte die Frauen zu politischen Gefangenen. Im August wurden sie wegen religiös motivierten Rowdytums zu zwei Jahren Haft verurteilt. Das Urteil gegen eine der Frauen wurde in eine Bewährungsstrafe umgewandelt.
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