„Ganz mit sich allein“ – Gorbatschow stellt Memoiren vor

Michail Gorbatschow: „Mit der Reform der Sowjetunion waren wir zu spät dran". Foto: ITAR-TASS.

Michail Gorbatschow: „Mit der Reform der Sowjetunion waren wir zu spät dran". Foto: ITAR-TASS.

In der knackvollen Buchhandlung Moskwa, etwa 300 Schritte vor dem Kreml-Tor, wird sein Erscheinen bereits mit standing ovations begrüßt. Michail Gorbatschow, einer der größten Weltveränderer des 20. Jahrhunderts, präsentiert sein neuestes Buch. „Najedine s soboi" heißt das Werk. „Ganz mit sich allein".

Das erste flüchtige Durchblättern lässt stark annehmen, dass es eine Art Therapie für den Autor war, dieses Erinnern und Diktieren. Eine Therapie des ehemals großen und mächtigen Mannes, der berufsmäßig – jedenfalls in seinem Heimatland – auf einmal nicht mehr gefragt war, mehr noch, von sehr vielen gehasst und verflucht. Und privat viel zu früh seine heiß geliebte Ehefrau verloren hat. Seine Frau Raissa starb 1999 mit 67 Jahren. Michail Gorbatschow wird im März 82. Als sie 1953 – Stalins Todesjahr – geheiratet hatten, war sie 21 und er 22.

„Fast 50 Jahre lang waren Raissa und ich zusammen", schreibt er. „Niemals haben wir einander gelangweilt, wir hatten es immer schön zu zweit. Wir haben einander geliebt, gesprochen haben wir aber wenig darüber, selbst wenn wir allein waren. Das Wichtigste, so schien uns, ist, zu bewahren, was in unserer Jugend entstanden war. Wir haben uns gut verstanden und unsere Gefühle zueinander gehütet. Das Schuldgefühl für ihren Tod verlässt mich nicht. Ich denke stets zurück: Wie konnte es passieren, dass ich sie nicht zu retten vermochte?"

Aber Raissa lebt weiter. Und Scherzkeks Gorbi lebt weiter. Auf die banale Journalistenfrage - „Was war die schwierigste Entscheidung in Ihrem Leben: der Schritt an die Spitze der KPdSU? Der Beginn der Perestroika? Die Freilassung von Andrej Sacharow aus der Verbannung? Vielleicht die Zustimmung für die deutsche Wiedervereinigung?" - antwortet der legendäre Friedensnobelpreisträger: „Die schwierigste Entscheidung war die Wahl der Ehefrau."

Der Apparatschik

„Eine Therapie, in der Tat", würden viele sagen, die Gorbis Memoiren heute aufmachen. Besonders jene, die heute 30 sind und jünger. Na gut, die Aufzeichnungen über Großeltern und Eltern sind vielleicht noch verzeihlich. Ein Tribut eben. Die Studentenjahre, die Liebe – ok, der Alltag der jungen Leute in Moskau der 50er-Jahre, das mag ja auch unter Umständen in einigen Details nicht uninteressant sein.

Aber Gorbi als Apparatschik, seine Karriere als aufstrebender Parteifunktionär, all diese Figuren aus dem Politbüro, deren Namen den meisten heute gar nichts sagen – Solomenzew, Tichonow, Tschebrikow, Kunajew, Romanow, Ligatschow etc. (alles, was auf Seite 209 anfängt und sich noch 200 Seiten lang hinschleppt), ja selbst die bekannteren Namen wie Breschnew, Andropow oder Kossygin – wer braucht das heute noch?

Die Stunden, die man heute aufopfern würde, um diese Seiten durchzulesen, entsprechen immerhin etwa zwei Jahrzehnten im Leben des Autors. Das Gefühl der vergeudeten Zeit lässt nicht nach - sowohl beim Leser, als auch beim Protagonisten. Wozu hatte es Gorbatschow des 21. Jahrhunderts noch nötig, all diese Intrigen so penibel niederzuschreiben? Eben: höchstens zu Therapie-Zwecken.

Der erste und letzte UdSSR-Präsident

Der Abschnitt, in dem Gorbatschow zum ersten Mann in der Sowjetunion wird – zunächst als KP-Chef und später als „Präsident" – haben schon mehr Bezug auf das Heute, wenn auch vielmehr auf den gestrigen Tag Russlands. Bemerkenswert allerdings, dass der Autor seine giftigsten Worte nicht für die Verräter aus seinem engsten KP-Kreis findet – die Leute, die im August 1991 gegen ihn geputscht haben – sondern gegen den Antikommunisten Boris Jelzin, der ihn im Moskauer Kreml ablöste, allerdings schon als Staatschef des „unabhängigen Russland": „Doppelzüngigkeit", „List", „Verrat", „Lüge"... „Mit der Reform der Sowjetunion waren wir zu spät dran", gesteht Gorbatschow auf den letzten Seiten. „Wir waren zu spät dran mit einer Umwandlung der KPdSU in eine moderne demokratische Partei. Dies waren die zwei großen Fehler." Den deutschsprachigen Lesern wird da sicherlich ein anderes Gorbi-Zitat einfallen – die Worte, die er bei seinem letzten Besuch in der DDR und kurz vor dem Mauerfall Erich Honecker gesagt haben soll: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben."

„Das Wichtigste, was ich mir gutschreiben kann: Für Russland gibt es nach der Perestroika kein Zurück mehr", erklärt der erste und letzte Präsident der UdSSR. Die Zuhörer, die geduldig auf Gorbis Autogramm warten, applaudieren.

Das Leben nach dem Imperium

„Mein nächstes Buch wird meinem Leben nach dem Fall des Imperiums gelten - und ich werde es schreiben!", verspricht Gorbatschow bei der Buchpräsentation. Wieder Applaus. In der Tat: Wenn interessieren schon heute diese spätsowjetischen Mottenpulver-Gestalten?

Zum heutigen Tag äußert sich der Autor aber vorerst äußerst zurückhaltend. „Gefällt Ihnen das heutige Russland?" fragt ihn eine Frau aus dem Saal. „Darüber schreibe ich doch ständig", erwidert Gorbi. „Lesen Sie denn meine Artikel nicht? Was lesen Sie dann? Haben Sie gehört, was Putin gesagt hat? 'Man soll diesem Gorbatschow die Zunge kürzer schneiden.' Deshalb verstumme ich lieber." Einen Satz lässt er sich dann dennoch entlocken: „Die heutigen Machthaber wollen keine Antwort geben, welche Gesellschaft wir denn anstreben."

„Ich war kürzlich in den USA", wechselt Gorbi das Thema, was er schon immer gut beherrscht hat. „Zu den Treffen mit mir kamen Tausende. Die Begegnungen galten dem Thema 'Der Weg zur Freiheit'. Immer wieder wurde ich dabei gefragt: 'Was soll Amerika heute tun?' 'Da stimmt etwas nicht', erwiderte ich. 'Es war doch immer Amerika, das anderen Ländern gesagt hat, wo es lang gehen soll. Wenn ihr aber mich fragt, dann sage ich: Amerika braucht dringend eine Perestroika.'"

Ein kräftiger Mann im Publikum springt plötzlich auf und schreit: „Wir werden dich noch einknasten!" „Was hat er gesagt? Ich habe es nicht gehört", fragt Gorbatschow Leute um sich herum. „Vergessen Sie es, nicht wichtig, ein Dummkopf war das", bekommt er als Auskunft. Die Fragestunde ist abrupt zu Ende, die Autogramm-Stunde kann beginnen.

Damit alle, die gekommen waren, Gorbis Autogramm bekommen, müsste der Autor noch bis Morgengrauen in der Buchhandlung bleiben. Denn es waren bestimmt mehr als 1000, und jeder wollte mit Gorbi noch unbedingt ein paar Worte wechseln. „Ganz mit sich allein" war der Autor an diesem Abend bestimmt nicht.

Draußen vor dem Buchladen stehen in der kühlen Finsternis des Novemberabends ein paar Gorbi-Hasser mit dem Transparent „Wir haben den Verrat nicht vergessen!" Auch sie wollen den Helden der Stunde nicht „ganz allein" lassen. Gorbi ist wieder da.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei RIA Novosti. 

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