Russlands Präsident Wladimir Putin und der Präsident der Europäische Kommision José Manuel Barroso während des Russland-EU Gipfeltreffens in St.Petersburg. Foto:AP.
Bei dem turnusmäßigen Treffen des Petersburger Dialoges und den russisch-deutschen Regierungskonsultationen wurde mit einem Skandal gerechnet. Buchstäblich am Vorabend der Veranstaltung verabschiedete der Bundestag einen Antrag, in dem das russische Vorgehen gegen Putins Widersacher kritisiert wird. Dem ging öffentliche Kritik des offiziellen Russland-Koordinators der Bundesregierung Andreas Schockenhoff voraus.
Die Kommentatoren haben sich sehr angeregt darüber geäußert, dass die Beziehungen der beiden Länder, die als sehr enge Partner gesehen werden, eine tiefgreifende Krise durchmachen.
Zu einem offenen Konflikt ist es jedoch nicht gekommen. Es fand ein Meinungsaustausch zur innenpolitischen Situation in Russland statt, doch
wie das ab und an zwischen Moskau und Berlin vorkommt – lediglich zu geschäftlichen Fragen. Und obwohl Wladimir Putins Bemerkung zur Skandalgeschichte mit Pussy Riot in Deutschland, wo man gegenüber dem Schicksal der inhaftierten Sängerinnen sehr sensibel reagiert, eine Weitere Welle der Empörung hervorgerufen hatte, blieben im Großen und Ganzen alle bei ihrem Standpunkt. Nichtsdestotrotz kann man nicht behaupten, dass sich in den russisch-deutschen Beziehungen nichts ändern würde. Es hat sich eine Situation ergeben, in der die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen sich in einer gegengesetzten Schwingungsphase befinden.
Politisch betrachtet weigert sich Russland bewusst, dem Modell zu folgen, das noch vor nicht allzu langer Zeit als das europäische betrachtet wurde. In den 1990еr und 2000er Jahren hatte Moskau mit den europäische Partnern genug Konflikte zu politischen und Wertefragen auszutragen, und Russland beharrte stets auf seiner „nationalen Besonderheit“ sowie auf der Unmöglichkeit, ein entsprechendes Niveau der Demokratie in einem schnelleren Tempo zu erreichen – dieser Prozess nahm in anderen Ländern immerhin Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte in Anspruch.
Anders ausgedrückt pochte Russland – ohne den Wertekanon oder das anzusteuernde Entwicklungsziel in Frage zu stellen – auf sein Recht, seinen eigenen Weg und sein eigenes Tempo zur Erreichung dieses Zieles wählen zu dürfen.
Doch die Zeiten haben sich geändert. Das europäische Modell in seiner „durchschnittlichen“ Ausprägung gilt nicht länger als Maßstab und deren Wertekanon wird in Frage gestellt.
Konflikt der Weltanschauungen
Der Fall „Pussy Riot“ demonstriert anschaulich, dass die europäische und die russische Sichtweise nicht miteinander korrespondieren. In
Europa spricht man von politischer Verfolgung, von der Verletzung des Rechtes auf Selbstverwirklichung und Einschränkung der Meinungsfreiheit, in Russland dagegen wird vor allem die Gotteslästerei, Frevelhaftigkeit und Verletzung religiöser Gefühle thematisiert. Es ist klar, dass diese Diskussion auf beiden Seiten ein propagandistisches Element enthält, aber entscheidender ist das Aufeinanderprallen der Weltanschauungen – der liberalen, zutiefst im modernen Europa verwurzelten, und der in Russland verankerten traditionalistischen.
Letzteres ist leicht zu erklären. Vor dem Hintergrund der Aufzehrung jeglicher sowjetischer und postsowjetischer Paradigmen beginnt die russische Gesellschaft, eine andere Wertegrundlage zu suchen. Eine Hinwendung zu kulturell-religiösen Traditionen ist in solch einer Situation nichts Besonderes.
Das bedeutet allerdings nicht, dass sich gerade auf dieser Grundlage auch eine Identität herausbilden wird; das Pendel kann natürlich auch in die andere Richtung ausschlagen, da der Suchprozess einen recht quälenden Vorgang darstellt.
Was im Übrigen Europa betrifft, so wird wohl auch dort die weltanschauliche Plattform wohl kaum in dieser Form bestehen bleiben. Doch bereits heute ist das Auseinanderdriften der Entwicklung zu erkennen und es gibt keinerlei Grund darauf zu hoffen, dass sich an dieser Tendenz etwas ändern wird.
In der Wirtschaft ist alles ganz anders
Russland ist nun endlich der WTO beigetreten. Für sich genommen ist dies natürlich kein Allheilmittel, dank dessen der Goldregen ausländischer Investitionen auf ein Land hernieder prasseln würde. Allerdings beruhigt die Einbindung Russlands in das System zur Regulierung des Welthandels die Gemüter und schuf einen Mechanismus zur Interessensicherung ausländischer Unternehmer.
Aber auch ohnehin nimmt das Interesse der europäischen Geschäftswelt gegenüber Russland zu – und zwar nicht nur als Rohstoffquelle, sondern auch als nahezu unerschöpflicher Absatzmarkt, auf dem die Kaufkraft permanent zunimmt, sowie als Land, das einer technologischen Partnerschaft mit den führenden Unternehmen und Gesellschaften bedarf.
In einem inoffiziellen Gespräch bemerkte unlängst ein hochrangiger Vertreter der europäischen politischen Szene: Wie Russland sich auch entwickeln mag – man muss anerkennen, dass es für uns das letzte Eldorado ist. Was natürlich vor dem Hintergrund der allgemeinen Stagnation der Europäischen Union und den beunruhigenden Tendenzen in der Welt sehr große Bedeutung hat.
Deshalb auch sind die Geschäftsleute, darunter auch in Deutschland, aufs Äußerste daran interessiert, dass die politischen Unstimmigkeiten die Arbeit auf dem russischen Markt nicht behindern, so wie sie auch nie einen Hinderungsgrund für das Engagement in China dargestellt haben.
Interessant ist die Frage, inwieweit man diese beiden gegenläufigen Trends unter einen Hut bringen kann: die zunehmende ideologisch-politische Entfremdung und den wachsenden wirtschaftlichen Austausch. Die russisch-deutschen Konsultationen haben gezeigt, dass bislang kein fataler Widerspruch existiert.
Diese Dissonanz kann jedoch nicht ewig weiterbestehen. Eines schönen Tages werden entweder die westlichen Partner sich damit abfinden müssen, dass man in Russland über eigene Vorstellungen von den gegenseitigen Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft verfügt (und diesem Fakt keine weitere Bedeutung beimessen) oder Russland beginnt zu den gegenwärtigen europäischen politischen Standards zurückzukehren oder aber die wirtschaftliche Zusammenarbeit wird im zunehmenden Maße an diesem politischen Widerspruch zu Grunde gehen.
Vorerst ist nicht zu erkennen, welche dieser drei Varianten eintreten wird, klar jedoch ist, dass wir früher oder später vor einem Scheideweg stehen werden.
Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift "Russia in Global Affairs".
Die ungekürzte Fassung dieses Beitrags erschien bei RIA Novosti.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!