Teilnehmer der Großkundgebung „Für faire Wahlen“, die am 26 Dezember 2011 auf dem Sacharow-Prospekt in Moskau stattfand. Die Aufschrift auf dem Banner: "Wir haben euch nicht gewählt!". Foto: Tatjana Schramtschenko, Russland HEUTE.
Vor einem Jahr hatten der Verlauf und die Ergebnisse der Parlamentswahlen dazu geführt, dass unzufriedene Bürger auf die Straßen russischer Städte gingen und den Widerruf der Abstimmungsergebnisse forderten. Die erste Versammlung fand in Moskau am 5. Dezember 2011 statt - einen Tag nach den Wahlen.
Im Verlauf des darauffolgenden Jahres wurden in vielen russischen Städten und auch im Ausland Versammlungen durchgeführt, wobei der Höhepunkt unmittelbar nach den Präsidentschaftswahlen im März 2012 zu verzeichnen war. In der russischen Hauptstadt wurden die Aktionen als „Marsch der Millionen" bezeichnet, auch wenn in Wirklichkeit keine „Millionen" auf die Straße gegangen waren. Die Organisatoren sprachen von Zehntausenden oder gar Hunderttausenden von Menschen. Die Ordnungskräfte hingegen nannten weitaus niedrigere Zahlen.
Nach den Parlamentswahlen forderten die Protestler Neuwahlen, den Rücktritt des Leiters der Zentralen Wahlkommission Wladimir Tschurow, die Freilassung politischer Häftlinge sowie die Registrierung von Oppositionsparteien.
Reaktion des Staates
Die Staatsmacht hat auf die Proteste reagiert. Nachdem unzählige Verstöße bei der Durchführung der Parlamentswahlen gemeldet worden waren, sorgte der Präsidentschaftskandidat Wladimir Putin dafür, dass alle Wahllokale bei den Wahlen des Staatsoberhauptes mit einer Webkamera ausgestattet wurden. Daraufhin wurden in der überwiegenden Zahl der Wahllokale in rekordverdächtiger Zeit Videoüberwachungsanlagen installiert. Die Übertragung erfolgte live auf einer speziell dafür eingerichteten Internetseite.
Schließlich befasste sich die Zentrale Wahlkommission am Wahltag hauptsächlich mit Verstößen, die in Zusammenhang mit der Anbringung dieser Webkameras standen - einige waren so montiert worden, dass sie keinen Einblick auf die Wahlurnen gewährten. Die eigentlichen Mitteilungen über Verstöße bei der Stimmabgabe und Stimmenzählung waren nach Angaben der Zentralen Wahlkommission so gering, dass sie keinen wesentlichen Einfluss auf die Wahlergebnisse hatten.
Sowohl russische als auch internationale Wahlbeobachter räumten ein, dass die Präsidentschaftswahlen „sauberer" als die Parlamentswahlen verlaufen seien und verwiesen in diesem Zusammenhang auch auf die Übertragung im Internet.
Zudem wurde von der Staatsduma ein Gesetz erlassen, das eine Reduzierung der für die Registrierung politischer Parteien vorgeschriebenen Mindestmitgliederzahl vorsieht. Dadurch gab es bei den Regionalwahlen im Oktober 2012 in der Tat 19 neue Parteien. Im Herbst 2012 kehrte man in Russland nach achtjähriger Unterbrechung auch zur Direktwahl der Gouverneure zurück - allerdings wurden zusätzliche Filter für die Kandidaten eingeführt.
Die Protestbewegung, die sich aus Vertretern des gesamten politischen Spektrums zusammensetzt und in deren Reihen sowohl Parteimitglieder
als auch Parteilose vertreten sind, sah sich im vergangenen Jahr gezwungen, sich eine Struktur zu geben. Im Oktober dieses Jahres fanden Wahlen zum Koordinationsrat der Opposition (KRO) statt, dem nunmehr 45 Personen angehören. Die meisten Stimmen erhielt der bekannte Blogger und Korruptionsbekämpfer Alexej Nawalny. Zu Ehren des Jahrestags der Protestaktionen findet nun am 15. Dezember die erste vom KRO organisierte Versammlung statt. Den Protestierenden geht es nach wie vor um ihre altbekannten Forderungen: Sie streben unter anderem Neuwahlen sowie die Freilassung politischer Häftlinge an.
Viele Fehler, aber auch Erfolge
Vertreter der kremltreuen Partei „Einiges Russland" sind davon überzeugt, dass die Opposition bei ihren im vergangenen Jahr auf der Straße durchgeführten Aktionen kein Profil entwickelt hat. „Sie sind als neue Alternative aufgetreten. Allerdings haben sie ihre Chance komplett verspielt, und die Zeit arbeitet gegen sie", meint Olga Batalina von „Einiges Russland".
Auch der wissenschaftliche Leiter des Zentrums für politische Konjunktur Alexej Tschesnakow geht davon aus, dass die „Träger des weißen Bandes" - das weiße Band ist das Symbol der Proteste - sehr viele Fehler begangen haben. Und für den Politologen ist die Einrichtung des KRO keine echte Errungenschaft.
Der Experte ist überzeugt, dass die Vertreter der Protestbewegung in der nächsten Zeit nicht die Macht übernehmen werden. Tschesnakows
Einschätzung zufolge wird sich erst gegen Ende des nächsten Jahres herausstellen, ob die Protestbewegung überhaupt in der Lage sein wird, mit der Staatsmacht zu konkurrieren. Sie befinde sich noch ganz am Anfang des Weges. Der Direktor des Instituts für politische Soziologie Wjatscheslaw Smirnow hingegen richtet die Aufmerksamkeit auch auf die Erfolge der Opposition. Als eines der wichtigsten Ergebnisse des Protestjahres nennt er das Auftauchen von neuen Führungspersönlichkeiten. Neben Nawalny befindet sich darunter auch der Koordinator der „Linken Front" Sergej Udalzow.
Nach Aussage des Experten hat das Jahr allerdings gezeigt, dass „die Bevölkerung apolitisch und nicht so machtverliebt wie die Oppositionspolitiker ist". In diesem Zusammenhang prognostiziert Smirnow eine Stagnation der liberalen Protestbewegung.
Laut Gennadi Gudkow, Mitglied des KRO, ist der Protest noch nicht verschwunden. Zwar wird er Höhen und Tiefen durchleben, doch die Bewegung wird weiter wachsen. Allerdings teilt auch Gudkow die Auffassung, dass die russische Protestbewegung derzeit am Scheideweg steht.
Welchen Weg sie weiter beschreitet, hänge davon ab, ob die Staatsmacht sie anhören werde oder eben nicht. Wenn die Staatsmacht den Forderungen der Protestbewegung Gehör schenkt, würde die Opposition Gudkows Einschätzung zufolge einen Kompromiss suchen. Ignoriert sie allerdings die Protestbewegung, könnte dies eine Radikalisierung nach sich ziehen, die möglicherweise nicht mehr zu kontrollieren wäre.
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