Arbeiterpaläste aus Glas und Beton

Alexej Schtschussew, Erbauer des Lenin-Mausoleums, konzipierte das Ministerium für Landwirtschaft. Foto: Lori/ Legion Media

Alexej Schtschussew, Erbauer des Lenin-Mausoleums, konzipierte das Ministerium für Landwirtschaft. Foto: Lori/ Legion Media

Konstruktivistische Architekten hatten in den 1920er-Jahren in Moskau viel Spielraum für künstlerische Experimente. Ein Teil ihres Erbes ist allerdings akut vom Abriss bedroht.

„Eine ununterbrochene Mechanisierung des Lebens“ – so beschrieb der Architekt Moisej Ginzburg die 1920er- und 1930er-Jahre in Moskau. Ginzburg war einer der Ersten, der die Prinzipien des Konstruktivismus in der Architektur erkannte.

Es galt, die sozialen Gegensätze ästhetisch zu entschärfen – für Straßenkehrer wie für Adelige, die ihre Plätze in der sozialen Ordnung radikal getauscht hatten. In diesem neuen Raum sollten die Maschinen harmonisch eingepasst – und die Bedürfnisse der in der Phase der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) zu Geld gekommenen Geschäftsleute berücksichtigt werden.

Funktionalität über alles

Auch die Architekten suchten nach neuen Formen und ließen sich in den Bann geometrischer Figuren und eines sachlichen Ausdrucks ziehen. Sie wendeten sich ab von der L’art pour l’art und schufen ein anderes Verständnis von Design. Jedes Objekt sollte, ähnlich wie im deutschen „Bauhaus“, zugleich funktional und ansprechend sein. Außer Wohnraum entstanden in Moskau Arbeiterkulturzentren, Fabrikküchen und geräumige Garagen. Die Baukünstler stießen alles Überflüssige ab und ließen sich von dem Ideal einer rationalen Nutzung jedes einzelnen Gebäudeteils leiten. So konnte der Schacht eines Aufzugs eine Fassade schmücken, Uhren, Lautsprecher und Reklame zu einem dekorativen Ensemble verschmelzen.

Das grundlegende Material der Epoche war Glas. Große Glaselemente sollten den technischen Fortschritt und in ihrem Kontrast zum Beton den neuen Industriestil verkörpern. Ilja Golossow, der 1925 den Sujew-Arbeiterclub entwarf, wählte als Zentrum seiner architektonischen Komposition einen Glaszylinder. Dieser erinnerte an den Bau eines Fabriksilos und demonstrierte so, dass sich hier Arbeiter versammeln – nicht allerdings, um Heldentaten an den Werkbänken zu vollbringen, sondern um über Politik zu diskutieren.

Die Konstruktivisten experimentierten auch sehr gewagt mit Fensterformen, in denen sie verschiedene geometrische Figuren kombinierten: Der einzige umgesetzte Entwurf des Avantgardekünstlers El Lissitzky ist das Druckereigebäude der Zeitschrift „Ogonjok“. In diesem Bauwerk fließt zusammen, was zuvor undenkbar gewesen wäre – große quadratische und kleine runde Fenster.

Abriss von Arbeitersiedlungen

Konstantin Melnikow ist Architekt des wohl bekanntesten konstruktivistischen Gebäudes in Moskau. Er durchsetzte die Mauern seines Wohnhauses, das ihm gleichzeitig als Werkstatt diente, mit vielen kleinen sechseckigen Fensterchen. Dieses Meisterstück der Epoche zählt zu den touristischen Attraktionen und denkmalgeschützten Gebäuden.

Leider lässt sich Ähnliches nicht von anderen Bauwerken der 1920er- und 1930er-Jahre sagen. Einigen von ihnen, die nicht als Architekturdenkmäler anerkannt sind, droht heute der Abriss. Es gibt in Moskau noch 26 Arbeitersiedlungen der konstruktivistischen Epoche. Derzeit wird über das Schicksal von Wohnhäusern der Siedlungen Budjonowskij gorodok, Dubrowka und Pogodinskij entschieden.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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