Schriftsteller Michail Schischkin. Foto aus dem persönlichen Archiv.
Anhörung eines russischen Asylbewerbers in der Schweiz: Er sei sechzehn, komme aus Tschetschenien; Rebellen hätte vor Jahren seine Familie ermordet. Dann sei er ins Heim gekommen, vom Leiter missbraucht worden. Nachprüfbar ist nichts davon. Nur sein Alter, das sicher falsch ist. Das bedeutet Abschiebung. Der Übersetzer, der bei dieser und zahllosen weiteren Befragungen zugegen ist, weiß, dass solche Dinge in seinem Land vorkommen. Die Geschichten von Gewalt, Willkür und Verlust - ob wahr oder nicht - verfolgen ihn.
Mit einer Reihe weiterer Erzählfäden, die jeweils ihren eigenen Stoff und Stil haben, verflicht Schischkin diese Geschichten zu einem hochkomplexen Gewebe. Da wird in der Manier eines traditionellen Tagebuchromans die Lebensgeschichte einer populären russischen Sängerin rekapituliert.
Die Schrecken der Weltkriege, von Revolution und Bürgerkrieg zeigen sich nur in Ansätzen, sind aber doch präsent. Die Künstlerkarriere, die privaten Probleme und Lösungen stehen im Vordergrund. Dieser Erzählstrang zieht seinen Stoff aus der Lektüre des Übersetzers, der einst eine Biographie der Sängerin schreiben sollte und so in Besitz der Manuskripte kam.
Realität verschmilzt mit literarischen Welten
Zu seinen weiteren Lektüren gehören antike Darstellungen der Perserkriege, die er sich in den Pausen zwischen den Anhörungen vornimmt und die sich im Text unvermittelt zwischen die
Befragungsdialoge schieben. Passagenweise kommt es auch zu Verschmelzungen von Stoffen ungleicher Herkunft: die Erzählung eines „Gesuchstellers" etwa vermischt sich mit Elementen der Mythologie sibirischer Völker, bis plötzlich Daphnis und Chloe aus dem antiken Hirtenroman im Geschehen auftauchen und nicht mehr erkennbar ist, wer hier wessen Geschichte erzählt. Ähnlich dient die Geschichte von Tristan und Isolde dem Übersetzer als Schlüssel zum Verstehen seiner gescheiterten Ehe. Diese Trennung ist eine der Phasen seines Lebens, die er erinnernd vergegenwärtigt. Er tut es in Briefen an seinen Sohn oder in imaginären Dialogen mit einer verstorbenen Geliebten.
Überhaupt ist es neben der stilistischen Virtuosität das ausgeprägte Formbewusstsein, das diesen Roman so lesenswert macht. Seine Themen sind ewig: Liebe, Leben, Tod, Verlust.
In Rom, wo das „Venushaar" zwischen alten Gemäuern wuchert, lässt Schischkin seinen Roman enden: mit einer imaginären Sequenz, in der Geschichte, persönliche Vergangenheit und Gegenwart zusammenfließen.
In der russischen Gegenwartsliteratur gehört Schischkin zu den leisen Stimmen. Er verlangt einen hellwachen Leser, der es nicht scheut, sich in die beziehungsreichen Details seiner Prosa einzudenken. Wer sich darauf einlässt, wird reich belohnt.
Der Roman Venushaar erscheint im Taschenbuchformat am 10. Dezember 2012.
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Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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