Großartige Neuverfilmung von „Anna Karenina“

Der neue Film des britischen Regisseurs Joe Wright ("Pride & Prejudice" - "Stolz und Vorurteil") startet am 6. Dezember in den deutschen und am 10. Januar in den russischen Kinos. Von allen Verfilmungen der unerreichbaren Romanvorlage kommt er dem Original am nächsten. Das ist die Ansicht von Valeri Kitschin, Filmkritiker der „Rossijskaja Gaseta“.

„Anna Karenina“ von Joe Wright (Regie) und Tom Stoppard (Buch) überrundet allein schon deshalb mühelos alle früheren Verfilmungen des Romans, weil sie auf jedwedes andächtiges Hauchen und krampfhaftes Bemühen verzichten, um zu illustrieren, zu entsprechen oder sich dem Ideal zu nähern. Wright inszeniert mit einer hochkarätigen Besetzung

Die Akteure über ihren Film

 

Joe Wright (Regie)

„Das Sujet des Romans besitzt Anklänge zu der Situation, die ich selbst seinerzeit durchlebt habe. Tolstois Protagonisten sind sehr real und mir erschreckend nahe. Eine große Liebesgeschichte, die bereits vielfach filmisch adaptiert worden ist, braucht einen Drehbuchautor, der etwas Neues einbringen kann."

Tom Stoppard (Drehbuch)

„Ich wollte unbedingt dabei sein. Ich halte mich in erster Linie für einen Theaterdramatiker, doch ein vollendetes Stück zu schreiben, gelingt einem bei weitem nicht immer. In diesem Roman geht es immer wieder um die Liebe: romantische Liebe, Mutterliebe, Kindesliebe, Geschwisterliebe, Heimatliebe. Diejenigen Teile des Romans, die keinen unmittlebaren Bezug zu diesem Thema besitzen, habe ich beiseite gelassen."

Keira Kneightley (Anna Karenina)

„Diese Geschichte ist bis heute aktuell: Auch jetzt träumen Menschen vom Unerreichbaren, leiden unter gesellschaftlichen Vorurteilen und Konventionen und sind außerstande, einander ihre Gefühle mitzuteilen. Sie leiden deshalb noch mehr."

Jude Law (Alexej Karenin)

„Das Drehbuch legt den Begriff Liebe vielschichtig aus, ehrlich und offen, ohne jemandem zu verurteilen. Die Dialoge sind unglaublich elegant und ausdrucksvoll. Das ging mit erst auf, als ich schließlich Tolstojs Meisterwerk gelesen und begriffen habe, wie schwierig es war, so etwas zu schreiben."

Russlands Gesellschaft als riesiges, nie endendes Theater, ein Theater, in dem die Menschen gehorsam die ihnen zugewiesenen Rollen spielen.

Damit entfallen sämtliche Verlockungen, den Film mit der Romanvorlage zu vergleichen, ihn bei irgendetwas ertappen, Widersprüche aufspüren und historische Ungenauigkeiten finden zu wollen. Kurzum, all das zu tun, womit sich die Zuschauer bei Verfilmungen literarischer Vorlagen so gern beschäftigen.

Man sieht sich Wrights Streifen an und durchlebt diese Geschichte gleichsam zum ersten Mal. Und ist aufgewühlt, als würde man das Finale nicht kennen. Die Idee Joe Wrights – die Welt als Theater und das Leben als Bühnenspiel aufzuführen – ist bestechend: Anna Karenina (eine brillante Keira Knightley) hört auf zu spielen, entdeckt sich selbst und verletzt damit allgemein akzeptierte Regeln.

Wahre Liebe in ihren natürlichen Erscheinungsformen erweist sich als Gefühl, das einer Naturkatastrophe gleichkommt, als irrational, nicht steuerbar, doch zugleich auch als Glück. Das begreift Anna Karenina und wird ein anderer Mensch. Weder die etablierte Gesellschaft, noch der streng nach den gesetzten gesellschaftlichen Konventionen lebende Ehemann (Jude Law) und letzten Endes auch Wronski (Aaron Taylor-Johnson), den der vor ihm und Anna klaffende Abgrund unübersehbar erschreckt, können sie verstehen.

Den Gegenpol zur künstlichen Theaterwelt bildet das einfache, natürliche Leben des Lewins (Domhnall Gleeson), jenes kauzigen Gutsbesitzers, der bäuerliche Arbeit und dörfliche Anspruchslosigkeit dem falschen Glanz der „Gesellschaft“ vorzieht.

Man gewinnt den Eindruck, dass Regisseur Joe Wright die einzig effektive Art und Weise gefunden hat, ohne allzu schmerzliche Verluste in einem zweistündigen Film die Grundideen des Romans zu visualisieren. Wrights Vorgänger interessierte an dieser Textvorlage die Geschichte der Liebe, des Ehebruchs und der Grausamkeit der Gesellschaft. Die neue Verfilmung handelt von Heuchelei und Natürlichkeit, von der Feindseligkeit einer künstlichen, zum Aussterben verurteilten Welt gegenüber der wahren Bestimmung des Menschen, die nach Lew Tolstoi in Liebe und Arbeit besteht.

Es ist nicht das Sujet des Buches, das Joe Wright filmisch umgesetzt hat, sondern jener Ansturm von Emotionen und Gedanken, den dieses Buch im Leser auslöst. Der Film verhält sich zum Roman etwa so wie Pjotr Tschaikowskis Fantasie-Ouvertüre „Romeo und Julia“ zu William Shakespeares Tragödie. Hieraus erklärt sich das changierende, wechselhafte Genre des Streifens. Wrights „Anna Karenina“ ist sowohl dramatisch (Kamera: Seamus McGarvey) als auch musikalisch (Musik: Dario Marianelli) ein Hochgenuss.

Die Szene, in der Bürodiener roboterhaft im rhythmischen Gleichmaß Papiere abstempeln, könnte aus einem Musical stammen. Und der mondäne Ball offenbart eine mustergültige Choreografie, die viel zu raffiniert ausfällt, um einfach nur eine banale Handlung zu illustrieren, sondern die unterdrückte Erotik in den streng vorgegebenen gesellschaftlich erlaubten Bewegungen und Berührungen offenbart. Anna Kareninas Reise von Petersburg nach Moskau wird überraschend einfach visualisiert als Durchschreiten von Korridoren und Dekorationsgerüsten hinter der Bühne. Mitunter erscheint ein Spielzeugzug, dicht umwölkt von Reif wie in einem Weihnachtsmysterium.

Sinfonie des Lebens

Eine herausragende Rolle in Joe Wrights Film spielt die Musik. Marianelli bezieht seine Inspirationen offenkundig nicht nur aus Folkloremotiven, sondern ebenso aus der Erfahrung ihrer paradoxen, vieldeutigen Verwendung. Die Episode des Pferderennens ist voller sinntragender Obertöne. Das Rennen spielt sich ebenfalls auf einer Theaterbühne ab, wo der drangvoll enge Raum der Kulissen dem wilden Vorwärtsstürmen der Pferde entgegensteht – die Katastrophe ist unvermeidlich.

Das Theater des Lebens besitzt ein reiches Repertoire, in diesem Theater ist es nicht langweilig. Nur stickig. Dieses Stickige empfindet Anna Karenina plötzlich, als sie in den Bann der Liebe gerät. Die Enge ihres Lebens öffnet sich zu grenzenloser Weite, die Welt hört auf, Theater zu sein, und wird Wirklichkeit. Im blendenden Licht dieses für sie neuen Gefühls werden alle Vorurteile, die sich die Menschen gegeben haben, unsinnig und töricht, es gibt nur noch ein alles überragendes Gesetz – das Gesetz der Liebe. Was immer diesem Gesetz widerspricht, ist künstlich wie ein Modell, eine Nachbildung, und damit feindselig. Es gibt keine „falsche“ Liebe. Aber es gibt jenes widerspruchsvolle Regelwerk, das erdacht wurde von einer scheinheiligen Gesellschaft, der Gesetzgebung, der Kirche. Es kann das Leben verstümmeln.

Die Motive werden in den Film eingestreut wie musikalische Themen in eine Sinfonie: Der erste Auftritt Wronskis, der in seiner schneeweißen Uniform so blendend erscheint wie der personifizierte Cupido, während Alexej Karenins Gehrock für einen Augenblick an eine Mönchskutte gemahnt. Joe Wrights Lebenstheater erlebt Tage des Erblühens und des Welkens: Der Stuck der Lügen bröckelt, der Marmor bekommt Risse und offenbart ein Innenleben aus Gips, alles bewegt sich in mechanischer Trägheit.

Das Gesellschaftstheater mit all seinen Kittys, Dollys und Betsys – bereits nicht mehr ganz russisch, aber ganz und gar noch nicht französisch – agiert ebenso arrogant-anmaßend wie komplexgeladen. Hier umreißt Wright sehr genau das Wesen eines Landes, das steckengeblieben ist zwischen West und Ost, dem der Mut fehlt zu bestimmen, wo es sich natürlicher und besser aufgehoben fühlt, was seine wirkliche Natur ausmacht Hervorgehoben werden muss die tadellos gelungene Rollenbesetzung des Films.

Die Entscheidung, das Leben als Theaterspiel zu zeigen und die Geschichte einer konkreten Familie, in der alles aus den Fugen gerät, in den Rang des allgemein Menschlichen zu erheben, entbindet Joe Wright von der Notwendigkeit, nach typisch „russischen“ Charakteren zu suchen, und gerade damit kommt er den Realitäten Russlands näher als seine Vorgänger. Die szenische Präsenz und Ausdruckskraft des Ensembles erscheint bei aller Relativität der Milieu-Zeichnung bestrickend natürlich und nicht anders vorstellbar. Sie setzt Maßstäbe.

Das Zusammenwirken von Akteuren, Szenenbild und Musik macht den Film so vollendet, dass er als in sich geschlossenes Ganzes wahrgenommen wird. Wrights „Anna Karenina“ ist wie ein Gemälde, bei dem man jeden noch so flüchtigen Pinselstrich sieht und bewertet, zugleich aber auch nicht zu bemerken scheint. Joe Wright hat die Hauptsache geschafft: Indem er das Shakespeare‘sche Prinzip „Die ganze Welt ist eine Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler" konsequent und vollendet auf die Kinoleinwand überträgt, setzt er die Vorstellungskraft der Zuschauer in Gang, macht sie zu aktiven Teilnehmern der Handlung. Phantasie weckt Emotionen, und so beginnen wir, das wohlbekannte Sujet neu zu erschaffen, aufs Neue zu durchleben.

Frühere Verfilmungen von "Anna Karenina"

Ihr Leinwanddebüt erlebte „Anna Karenina" in Russland bereits im Jahre 1911, als der Regisseur Maurice Maitre mit Schauspielern der Moskauer Theater eine erste Stummfilmversion des Romans drehte. Der Film ist nicht erhalten geblieben, ebenso fehlen weitere Angaben über das Projekt.

1914 unternahm Wladimir Gardin den nächsten Versuch einer Verfilmung des großen Romans mit der Schauspielerin Maria Germanowa vom Moskauer Künstlertheater in der Hauptrolle. Von den Kritikern wurde der Streifen verrissen, wobei sie vor allem geltend machten, in den Darstellern sei kein aristokratisches Blut zu spüren, die Geschichte erscheine primitiv und abgeschmackt. Damit endeten die hoffnungslosen Versuche des russischen Stummfilmkinos, auf der Leinwand etwas Tiefergehenderes zu zeigen als lediglich die Fabel des Kultromans.

Erst 1953 kamen die Filmemacher wieder auf Lew Tolstoi zurück. Regisseurin Tatjana Lukaschewitsch übertrug die Inszenierung des Moskauer Künstlertheaters mit Alla Tarassowa in der Rolle der Anna Karenina auf die Leinwand. Der Schwarz-Weiß-Streifen eroberte Spitzenplätze im Verleih und behauptete sich neben der Vielzahl deutscher und amerikanischer „Beutefilme", die seinerzeit das Hauptrepertoire der sowjetischen Kinos ausmachten.

Auf riesiges Interesse bei den breiten Zuschauermassen stieß die 1967 von Alexander Sarchi bei MOSFILM gedrehte erste Farbverfilmung des Tolstoi-Romans. Die Rolle der Anna Karenina spielte Tatjana Samoilowa, die nach dem triumphalen Erfolg des Filmes „Die Kraniche ziehen" bei den Filmfestspielen in Cannes auf dem Höhepunkt ihres internationalen Ruhms stand. Als Betsy war Maja Plissezkaja zu erleben. Sieben Jahre später spielte die Primaballerina des Bolschoi-Theaters dann die Titelrolle der Anna Karenina in einem Ballettfilm zur Musik von Rodion Schtschedrin.

Doch bereits 2006 war das Interesse an Tolstois allbekanntem Roman so weit erloschen, dass die von Regisseur Sergej Solowjow verantwortete Neuverfilmung mit Tatjana Drubitsch in der Titelrolle sowie den Kultschauspielern Oleg Jankowski als Alexej Karenin und Alexander Abdulow als Stiwa Oblonski praktisch nie auf die Kinoleinwand kam, da die Verleihfirmen den Streifen für kommerziell aussichtslos hielten.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Rossijskaja Gaseta.

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