Das neue Gesetz über die soziale Vormundschaft erhöht „elterliche Kompetenz" der Sozialbehörden. Foto: RIA Novosti.
Nachdem diesen Herbst von der russischen Staatsduma das "Gesetz über die soziale Vormundschaft" in erster Lesung verabschiedet worden war, schlugen in der Öffentlichkeit die Wogen hoch mit dem Ergebnis, dass die zweite Lesung aufs nächste Frühjahr vertagt wurde. Doch nach wie vor bewegt das Vorhaben die Gemüter. Der Staat greife nach der Familie, so lautet der Vorwurf der Gegner der Gesetzesinitiative, weil darin die Rechte der Vormundschaftsbehörden deutlich ausgeweitet werden. Mehr als 100.000 Unterschriften gegen das Gesetz belegen den öffentlichen Widerstand.
Die Position des zuständigen Ministeriums beschreibt Sergej Witelis, stellvertretender Leiter der Abteilung für Kinderfürsorge: „Auch wir wollen die Familie schützen. Das Gesetz soll Familien dabei helfen, sichere Lebens- und Erziehungsbedingungen für das Kind zu schaffen und einen Entzug des Sorgerechtes möglichst zu vermeiden. Eine Sozialvormundschaft soll der Einschränkung oder dem Entzug des elterlichen Sorgerechtes vorgezogen werden. Der Entzug soll die Ultima Ratio bleiben."
Die Vormundschaftsbehörden sollen den in einer sozial prekären Lage befindlichen Familien nicht – wie es bisher die übliche Praxis ist – das Sorgerecht für das Kind entziehen, sondern zuerst einen Sozialvormundschaftsvertrag ausarbeiten, der Auswege aus der Krisensituation der Familie vorsieht. Dieser Plan soll dann unter Aufsicht von Sozialarbeitern umgesetzt werden. Jeder Plan soll individuell für jede sozial gefährdete Familie ausgearbeitet werden und soziale, juristische, medizinische und psychologische Hilfsangebote enthalten. Mit ihm soll die „elterliche Kompetenz" erhöht werden. Gleichzeitig bieten die Behörden finanzielle Unterstützung und wirken bei der Arbeitsplatzbeschaffung mit.
Auf föderaler Ebene sei die Sozialvormundschaft schon seit mehreren Jahren nach diesem Prinzip organisiert, wundert man sich im Ministerium über die Aufregung. Zu Jahresbeginn 2012 waren in ganz Russland für 35.000 Kinder Sozialvormundschaften angeordnet. Das bedeute, so das Ministerium, dass die Zahl der Eltern, denen in den vergangenen vier Jahren das elterliche Sorgerecht entzogen werden musste, gesunken ist.
Doch den Optimismus der Gesetzesautoren sehen viele kritisch. „Die in ihrem Kern gut gemeinte Idee der Sozialvormundschaft für zerrüttete Familien könnte sich in sein Gegenteil verkehren", unkt selbst Pawel Astachow, immerhin Beauftragter des Präsidenten für Kinderrechte.
Eine willkürliche Einmischung in die Angelegenheiten der Familie aufgrund subjektiver Fehleinschätzungen und eine Verletzung des durch
das Familiengesetzbuch verankerten Vorrangs der Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder vor allen anderen Personen hält Astachow für möglich. In der Gesetzesvorlage würden Begriffe verwendet, die unpräzise seien und viel Spielraum bei der Interpretation böten, wie z. B. „in sozial gefährdeter Lage befindliche Familie", „unnormale Erziehung und Entwicklung", „negativer Einfluss auf das Verhalten von Minderjährigen" oder „ausreichende Grundlage für eine Einschränkung oder einen Entzug des elterlichen Sorgerechtes". Solche unausgereiften Formulierungen könnten dazu führen, dass Familien zum Opfer der subjektiven Einschätzung eines Beamten der Fürsorge- und Vormundschaftsbehörden werden könnten.
Einen weiteren Kritikpunkt bilden die Fürsorge- und Vormundschaftsbehörden, die entsprechend der Gesetzesvorlage frühzeitig Anzeichen einer sozialen Zerrüttung in der Familie erkennen und ein Maßnahmepaket ausarbeiten sollen, um die Familie aus ihrer prekären Lage herauszuführen. „Die Sozialvormundschaft darf in keinem Falle an die Vormundschaftsbehörden abgetreten werden", fordert Boris Altschuler, Kinderrechtsschützer und Mitglied der Gesellschaftskammer. „Sie sind auf ein repressives Vorgehen eingestellt, aber es sollte um eine Begleitung der Eltern und des Kindes gehen. Die Sozialvormundschaft muss von der Kommission für Jugendfragen angeordnet und vom sozialen Sicherungssystem umgesetzt werden".
„Die Vormundschaft darf nicht grundsätzlich für jede Familie angeordnet werden. In der Form, in welcher der Gesetzestext jetzt im Entwurf vorliegt, ist die Gefahr von Eigenmächtigkeiten sehr hoch", warnt auch Olga Letkowa, Direktorin des Gesellschaftlichen Zentrums für Rechtsfragen und Vorstandsmitglied der russischen Elternvereine. „Der Beamte darf allein entscheiden, ob er eine Familie als sozial gefährdet ansieht, um dann anschließend einen Maßnahmeplan zu erstellen, den er nicht unbedingt mit den Eltern abstimmen muss, und um ein Monitoring für die Umsetzung dieses Plans durchzuführen. Ihm allein fällt die Kontrolle über die Familien zu. In diesem Ablauf ist persönliche Einflussnahme oder mangelnde Integrität unredlicher Sozialarbeiter nicht auszuschließen".
Unpräzis geregelt - so lautet der Vorwurf - sei selbst das Anordnungsverfahren für die staatliche Vormundschaft. Sie soll entweder mit dem Einverständnis der Eltern sowie unter Berücksichtigung des Willen des minderjährigen Kindes festgelegt werden, sobald es das zehnte Lebensjahr erreicht hat, oder aber auf Anordnung eines Gerichtes erfolgen.
Trotz Protestkundgebungen und Unterschriftenaktionen wird sich wohl die Staatsduma weiter mit dem Thema befassen. In der Unteren Kammer des russischen Parlamentes wird damit gerechnet, dass die Gesetzesvorlage nach dem Einbringen von Änderungen verabschiedet werden kann. Auf welche Art und Weise die öffentliche Diskussion aber Berücksichtigung findet, ist noch völlig offen. Das sorgt für wachsende Beunruhigung.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei der Zeitschrift "Ogonjok".
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