Deutsche in der Sowjetunion: Ein grausames Kapitel des Stalinismus

Deutsche Arbeiter der Kolchose "Rotfront". Foto: rusdeutsch.ru

Deutsche Arbeiter der Kolchose "Rotfront". Foto: rusdeutsch.ru

Westliche Minderheiten wurden in den 30er Jahren unter Stalin brutal verfolgt. Darunter befanden sich in großer Zahl auch Deutsche. Ein Buch des Historikers Victor Dönninghaus beleuchtet dieses wenig erforschte Kapitel sowjetischer Geschichte.

In den 20er Jahren blickte manche nationale Minderheit in Westeuropa neidisch auf die Sowjetunion: Deutsche, Polen und Finnen entwickelten ihre nationale Kultur, in Partei- und Staatsorganen wurden sie an der Macht beteiligt. Ganz anders die Situation in den 30er Jahren: Deutsche, Finnen und andere Minderheiten des Westens waren zu Feindnationen geworden, ihr Schicksal waren häufig Lager und Deportation.

Wie ist dieser Wandel in den Köpfen der Sowjetführung zu erklären? Dieser Frage widmet sich der Historiker Victor Dönninghaus in seinem umfangreichen Werk „Minderheiten in Bedrängnis. Sowjetische Politik gegenüber Deutschen, Polen und anderen Diaspora-Nationalitäten 1917-1938", das jetzt auch auf Russisch im Rospen Verlag erschienen ist. Bis heute gab es keine Untersuchung über die Hintergründe und Motive, die hinter den Beschlüssen des Partei- und Staatsapparats standen.

Deutsche in der Sowjetunion

Das Buch geht ausführlich auf das Schicksal der Deutschen in der Sowjetunion ein. Den meisten waren Klassenkampf und Atheismus ein Gräuel. Anstatt sich zu bekämpfen, bildeten arme und reiche Bauern eine nationale und religiöse Front gegen die neuen Herrscher in Moskau. Auf die Kollektivierung antworteten die Deutschen auf ihre eigene Art: Massenweise versuchten sie 1929/30, in den Westen auszureisen und belagerten die deutsche Botschaft in Moskau.

Dönninghaus beschreibt hier ein wenig bekanntes, aber hoch brisantes Kapitel der deutsch-sowjetischen Geschichte. „Der Ansturm deutscher Kolonisten auf die Hauptstadt glich zunehmend einer panischen Flucht." Die deutsche Regierung nutzte die Not ihrer Landsleute in der Sowjetunion zu Propagandazwecken, nur wenige durften nach Deutschland einreisen. Die Masse der Deutschen wurde wieder in ihre Dörfer deportiert. Wer Päckchen der so genannten Hitler-Hilfe erhalten hatte, fiel später den Säuberungen zum Opfer. Die Zähmung der Widerspenstigen war grausam: „Jeder, der auch nur entfernt mit der Emigrationsbewegung von 1929/30 in Berührung gekommen war, wurde während des ‚großen Terrors' vernichtet", resümiert Dönninghaus.

Der erbitterte Widerstand der Deutschen gegen den sozialistischen Umbau und ihre Ausreiseversuche trugen maßgeblich dazu bei, dass sie als illoyal galten. Auch Polen, Letten, Esten und Griechen wandten sich hilfesuchend an die Botschaften „ihrer Staaten". Ein solches Protektorat bourgeoiser Staaten über „ihre" Minderheiten in der Sowjetunion wirkte sich für die Betreffenden allerdings kontraproduktiv aus. Die westlichen Minderheiten galten als Gefahr für die Staatssicherheit. In den 30er Jahren drehte sich die Spirale der Gewalt immer schneller: Zunächst wurden die „unzuverlässigen" Minderheiten zu mehreren Tausend aus der Grenzregion umgesiedelt, später wurden sie massenweise deportiert. Sie galten als Fünfte Kolonne, die verdächtigt wurde, im Kriegsfall mit den Deutschen zu kollaborieren.

Deportationen von höchster Stelle angeordnet

Nach individueller Schuld wurde nicht gefragt, allein die Zugehörigkeit zu einer „unzuverlässigen" Bevölkerungsgruppe besiegelte das Schicksal der Menschen. Dönninghaus kommt zu dem Schluss, dass es bei den ethnischen Deportationen um eine zielgerichtete Operation unter Kontrolle der höchsten Parteiführung handelt. In der Vorstellung des Partei-Olymps und insbesondere Stalins waren diese Völker „Feind-Nationen" mit genetisch bedingten negativen Eigenschaften.

Die westlichen Minderheiten eigneten sich „ideal für die Rolle des inneren Feindes", schreibt Dönninghaus, da sie wegen ihres höheren Lebensstandards, ihrer Selbstisolation und ihrer Kontakte zum Ausland ohnehin als reaktionär galten. In nationalen Operationen wurden diese Menschen massenweise verhaftet und erschossen.

Dönninghaus schildert detailliert die Maßnahmen gegen die Minderheiten und führt zahlreiche Berichte der Partei und Sicherheitsorgane auf. Für die paranoide Gedankenwelt Stalins, der die Minderheiten als Vertreter der Staaten der „feindlichen kapitalistischen Einkreisung" sah, gibt es jedoch nur wenige primäre Quellen.

So lässt sich der Wandel der Wahrnehmung der westlichen Völker von der geförderten Minderheit zur Feindnation vor allem an der operativen Politik nachvollziehen. Dönninghaus zeichnet ein bedrückendes Bild, das verdeutlicht, dass die Sowjetführung ihre eigenen Ideale – den Klassenansatz und den Internationalismus – mit Füßen trat. Vorrang hatte der Machterhalt. Das Buch hilft zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass zu Kriegsbeginn 1941/42 etwa 1,2 Millionen Menschen deportiert wurden, nur weil sie Deutsche, Finnen und Griechen waren.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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