Das Idealbild eines Wählers der Piratenpartei: jung, städtisch und gut ausgebildet. Foto: RIA Novosti.
Rein äußerlich entspricht Pawel Rassudow nur ein ganz klein wenig dem abgeschmackten Stereotyp vom blassen Nerd – aber blass ist an so einem feuchtkalten Novembertag fast jeder. Ohne Augenklappe oder Jack-Sparrow-Hut, dafür in Begleitung seiner Pressefrau, betritt Russlands Oberpirat ein Bierlokal im Moskauer Zentrum.
Rassudow legt los, wie alles begann mit der russischen Piratenpartei, der PPR. Seit 2006 in Schweden die erste Piratenpartei auf der Politbühne
5000 Beitrittswillige haben die Piraten nach Angaben der Gründer. Bislang wartet die Partei noch auf ihre Registrierung.
500 Mitglieder aus mehr als der Hälfte der 83 Regionen muss eine Partei haben, um registriert werden zu können.
auftauchte, hätten es die Russen geschafft, gleich dreimal Piratenparteien zu gründen und wieder aufzulösen, erklärt der aktuelle PPR-Chef. Dabei waren Gruppen am Werk, mit denen wohl niemand gerechnet hätte: Zum einen gab es Nationalisten, die sich völkische Reinheit in den Reihen der Netzaffinen wünschten, zum anderen – sage und staune – eine eigene Kreml-Piratenpartei, ein Simulacrum auf Stimmenfang. „Damals war außerdem eine recht konservative Lobby aktiv, die der Ansicht war, dass Piraten sich nur um Urheberrechte kümmern sollten", erzählt der 29-Jährige. Erst im Jahr 2011 kamen die Themen Offenheit und direkte Demokratie dazu, das Weltbild nahm Form an: „Informationsfreiheit, offener Staat und Recht auf Privatleben – dafür stehen wir. Das Einzigartige an den Piraten ist, dass wir nicht über Religion, Fußball und politische Ideologien streiten. Wir suchen konkrete Entscheidungen, die jetzt und heute effektiv sind."
Zensur ahoi!
Konkretes Ziel für Russlands Piraten ist zurzeit die von der Regierung erstellte Ru-Blacklist, erwirkt durch das „Gesetz über den Schutz der Kinder vor Informationen, die ihrer Gesundheit und Entwicklung schaden", das am 1. November in Kraft trat. Danach sollen als kinderschädlich eingestufte Seiten vom Netz genommen oder gesperrt werden. „Aber es trifft oft die Falschen", sagt Stanislaw Schakirow, einer der Mitbegründer der Bewegung, der sich mittlerweile seinen Weg durch Moskaus verstopfte Straßen gebahnt hat, bevor er sich ein Bier bestellt.
„Vor Kurzem landete auf der Blacklist etwa eine von Gerichtsmedizinern und Psychologen konzipierte Website, wo versucht wird, mit dem Mythos aufzuräumen, dass Selbstmord irgendwie romantisch ist, wie das oft in Musik und Kunst dargestellt wird. Sie beschreiben das Beispiel einer Schauspielerin, die ein schönes Kleid anzieht, sich mit Blumen schmückt und eine Überdosis nimmt. Dann muss sie sich natürlich übergeben, läuft mit dem angekotzten Kleid ins Bad, rutscht auf den Blumen aus und stößt sich den Kopf an der Badewanne usw. Den Rückmeldungen zufolge brachte die Website täglich 15 Menschen von ihren Suizidgedanken ab", erzählt Schakirow.
Piraten ohne Regenbogen
„Man muss erst mal zeigen, dass solche Gesetze nicht funktionieren, und den Bürgern beibringen, wie man sie umgehen kann. Und man muss denen, die sich so etwas ausdenken, klarmachen: ‚Was ihr auch unternehmt, es ist nicht effektiv.' Und man muss den Druck in Expertenrunden und bei Diskussionen verstärken, Aufklärung betreiben", sagt der 25-jährige Programmierer. Das Internet kann ihm zufolge per se nicht unfrei sein. „Derartige Gesetze haben höchstens den Effekt, dass sie VPN, Tor oder dem Freenet mehr neue Nutzer zuspielen – da gibt es nämlich keine Zensur."
In nicht allzu ferner Zukunft sieht sich Russlands Piratenpartei als einer der Hauptakteure, wenn es darum geht, auf die umstrittenen Verbots-
und Einschränkungsgesetze Einfluss zu nehmen, die in letzter Zeit in Rekordgeschwindigkeit verabschiedet werden. Bei den Bürgermeisterwahlen in Kaliningrad schickten die Piraten, die laut eigenen Angaben mittlerweile russlandweit 30 000 Anhänger – davon 5000 Beitrittswillige – haben, erstmals ihren Kandidaten ins Rennen. Ein „zu den Piraten übergelaufener Offizier", Zen-Buddhist, glatzköpfig, tätowiert, schaffte es auf Anhieb auf über zwei Prozent. Allerdings musste er als Parteiloser antreten, weil die Piratenpartei noch immer um ihre Registrierung kämpft. Zuletzt hatte sie eine Absage erhalten – mit dem Hinweis auf die Illegalität von Meerespiraterie.
Inwieweit die russischen Piraten den deutschen ähneln, darüber herrscht Uneinigkeit zwischen den beiden Parteien. Einen offensichtlichen Unterschied gibt es aber: „Wir drucken das Piratenlogo auf den verschiedensten Fahnen. Im Gegensatz zu Deutschland ist in Russland aber die Regenbogenflagge nicht dabei. Das Land ist da traditionell etwas homophober", stellt Schakirow ironisch fest und wendet sich seinem mit deutschen und russischen Piratenstickern zugepflasterten MacBook zu.
Der Staat uns untertan
Jung, gut ausgebildet, städtisch, mit einem Sinn für die Krise der repräsentativen Demokratie: Die Wählerschaft der russischen Piratenpartei könnte frisch von einer Anti-Putin-Demo kommen. Schakirow sieht in ihr Gleichaltrige, die „das Paradigma eines zeitgemäßen Staates adäquat einschätzen – als einen Apparat, den wir angestellt haben, um uns zu dienen, um einige von unseren eigenen Problemen zu lösen, nicht umgekehrt." Ihn selbst zieht es allerdings nicht auf Demonstrationen. „Ob Putin oder Nawalny an der Macht ist, macht keinen Unterschied", sagt er.
Die russische Piratenpartei sei dabei, sich andere Nischen als Demonstrationen vor dem Kreml zu suchen: Erst gestern habe man die ganze Nacht lang eine Idee durchdiskutiert, die Ideologie, Aufklärung und PR vereint. Es geht dabei um Spiele für Smartphones und für die sozialen Netzwerke. „Das ist gute Promotion und erreicht Millionen von Leuten" – und Kohle bringt es nebenbei auch ein. Die könnte die Piratenpartei dann in den Wahlkampf für die nächsten Wahlen zum Moskauer Stadtparlament investieren.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei RIA Novosti.
Eine Online-Community der Piratenpartei Russlands formierte sich am 26. Juni 2009. Dieses Datum gilt als der offizielle Gründungstag der PPR.
Im Dezember 2009 fanden die ersten Onlinewahlen des Vorsitzenden statt. Der heutige PPR-Chef Pawel Rassudow wurde im Juli 2010 gewählt.
Im September 2010 nahmen die Mitglieder auf dem ersten gesamtrussischen Parteitag „Kurs auf die Regis-trierung der Partei und auf die Vereinigung aller Piratenbewegungen Russlands".
Im Frühjahr 2011 wurde der PPR dann die Registrierung verweigert – „aufgrund mangelhafter vorgelegter Informationen über die Partei" –, so das russische Justiz- ministerium.
Anfang Juli 2012 visierte man auf dem dritten Parteitag erneut eine Registrierung unter dem Namen „Piratenpartei Russlands" an. Auf dem Parteitag nahmen 93 Delegierte aus 41 Regionen teil. Die PPR ist bis heute nicht registriert.
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