Am dritten Marsch der Millionen in Moskau nahmen 14 000 Menschen teil. Foto: Ruslan Sukhushin
Am 5. Dezember 2011, einen Tag nach den Staatsduma-Wahlen, ging ich zur Protest-Demo auf dem Tschistyje Prudy Boulevard in Moskau. Ich wusste noch wenig über Wahlfälschungen. Die Leute aus der Szene kannte ich auch nicht. Doch ich hatte das Gefühl, dass ich dort sein muss. Ich wusste nicht wieso, ich wusste nicht mit wem, doch irgendetwas sagte mir „Das ist richtig.“
Ich war auch auf Protest-Demos auf dem Triumphalnaja-Platz. Diese fanden jeweils am 31. eines Monats statt. Es ging in erster Linie um Versammlungsfreiheit. Ich traf unpolitische Menschen, die einfach ihre Meinung äußern wollten. Auf der Tribüne hatten immer noch die alten Politiker die Übermacht, aber es gab auch neue Gesichter, darunter der Jurist und Korruptionsbekämpfer Alexej Nawalny, der Schriftsteller Dimitrij Bykow und die Waldschützerin Jewgenia Tschirikowa. Bei den Protestierenden fanden sie viel mehr Anklang als die Berufspolitiker.
Am 10. Dezember 2011 gab es dann eine große Kundgebung auf dem Bolotnaja-Platz. Es war die erste Demo, die wirklich über Facebook und Twitter organisiert wurde. Ich selber wurde in Facebook eingeladen und erfuhr so über die Protestaktion. Auf der Facebook-Seite wurden verschiedene Marschrouten besprochen. Man hatte das Gefühl echter Zusammengehörigkeit.
Ich erinnre mich noch gut an diesen Tag: Es war sehr kalt, es schneite und es gab viele Polizei-Autos. Und es kamen Menschen, viele Menschen. Mehr, als ich je auf einer Demo sah. Doch das wichtigste war natürlich die Atmosphäre. Alle lächelten, entschuldigten sich für ein zufälliges Anrempeln (ganz schön glitschig im Dezember) und redeten miteinander über Russland. Wer schon mal in Moskau lebte, kann sich vorstellen, wie untypisch das für diese graue Stadt ist.
Plötzlich war es nicht mehr unanständig, im Café oder der Bar über Politik zu sprechen. In Facebook wurden nicht nur niedliche Katzen gepostet, sondern auch Aktuelles besprochen. Das Gefühl, dass sich Russland ändert, sorgte für Wärme. Auch die Occupy-Bewegung war von diesem Gefühl betrieben: Wir können etwas ändern. Ein Gefühl, das viele schon vergessen hatten.
Am 4. Februar 2012 fand erneut eine landesweite Kundgebung statt. Knapp 120.000 Menschen waren bei Temperaturen unter minus 20 Grad dabei. Unter ihnen Liberale, Nationalisten, Piraten, Links-Aktivisten, Anarchisten. Alle vereint unter dem “Weißen Band”, dem Symbol der Proteste.
Die Präsidentschaftswahlen am 4. März bedeuteten eine Wende in der Protestbewegung. Plötzlich wurde klar, dass die Hoffnungen übertrieben
waren. Ich selber war Wahlbeobachter, weil ich aktiv sein wollte. Obwohl bei mir alles ruhig verlief, wurde ich den ganzen Tag von Freunden, darunter auch Wahlbeobachtern, über Verstoße gegen das Wahlgesetz informiert. Ich beobachtete den ganzen Prozess, fast 24 Stunden lang. Das Resultat: Ich sicherte die Wahlstimmen in meinen Bezirk. Und übrigens gewann in meinen Wahlbezirk nicht Wladimir Putin, sondern der Millionär Michail Prochorow.
Dann kamen die neuen repressiven Gesetze und die Verhaftungen der Protestierenden auf der Demo am 6. Mai. Ich war zu der Zeit in Berlin, wäre aber lieber bei meinen Freunden auf der Straße gewesen. Ich wollte mit ihnen die Atmosphäre des Protestes teilen. Doch das Gefühl war weg. Es gab keine Hoffnung mehr, es kamen nur noch Aggression, Verzweiflung und Unverständnis raus, was die vielen Ausschreitungen nährte.
Wie die Occupy-Bewegung in der ganzen Welt, musste auch die russische Opposition neue Wege finden, auf den Staat Einfluss zu nehmen. Viele wurden Wahlbeobachter oder Partei-Aktivisten, andere bildeten Diskussions-Gruppen oder sammeln Geld für politische Gefangene. Demos wurden ein Teil des Alltags, eine Arbeit. 2 Stunden protestieren und dann ins Café gehen, so sah der Samstag eines Jugendlichen aus.
Das politische Leben Russland wachte auf und wurde viel interessanter. Wir sehen neue Gesichter, neue Ideen, neue Bewegungen. Die Zivilgesellschaft erkannte endlich ihre Kraft und zeigte das etwa bei den Hilfsaktionen für die Opfer der Flutkatastrophe in Krymsk am 6. Juli.
Der Protest riss die breiten Massen der Bevölkerung mit sich, nicht nur die politischen Aktivisten. Auch der Kampf mit regionalen Behörden oder zum Beispiel mit schlechter Straßenreinigung ist nun Teil des Protestes. Die Kontrolle der Politik durch die Öffentlichkeit ist zu einem wichtigen Instrument der Einflussnahme geworden. Viele Jahre lebten der Staat und das Volk ein paralleles Leben. Bislang störte der eine den anderen nicht. Alle schienen zufrieden.
Der Dezember 2011 war der Anfang eines Prozesses. Sein Ergebnis werden wir in den kommenden Jahren sehen.
Nun ist eine neue große Protest-Demo für den 15. Dezember 2012 geplant. Viele spekulieren darüber, wie viele Menschen kommen werden (seit 6 Monaten gehen immer weniger auf die Straße), oder was die Demo bewirken wird. Eine Abschlusskundgebung wird es diesmal nicht geben. Es wird auch keinen Anführer für die Aktion geben. Jeder kommt für sich, als Bürger und sagt sein individuelles “nein” zur heutigen politischen Elite Russlands. Wie erfolgreich dieses Format ist, werden wir bald erfahren.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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