Beim Großen Argisch feiern die Norilsker den Anbruch der Polarnacht. Foto: Pressebild
Zwischen Moskau und Norilsk liegen fast 3000 Kilometer, mit der Boeing in vier Stunden zu bewältigen. „Unser Flugzeug ist in Norilsk-Alykel gelandet. Das Wetter ist heute normal, minus 28 Grad“, verkündet der Flugkapitän. In seiner Stimme ist keinerlei Ironie zu spüren – für das herbstliche Norilsk ist das Wetter wirklich absolut normal.
Die Erschließung der Halbinsel Taimyr, auf der Norilsk liegt, begann im 17. Jahrhundert, aber die Stadt selbst ist wesentlich jünger. Das erste Norilsker Haus wurde erst 1921 bei einer Expedition des Geologen Nikolaj Urwanzew errichtet. Es war ein simples Holzgebäude mit vier Zimmern, grob zusammengezimmerten Tischen und Bänken, einem Ofen, Petroleumlampen.
Das erste Haus steht immer noch inmitten von Norilsk und soll daran erinnern, wer diese Region bewohnbar gemacht hat. Die etwa 175 000 Einwohner der Stadt sind bestrebt, die Vergangenheit nicht zu vergessen, auch nicht ihre düsteren Seiten: Ab den Dreißigerjahren befand sich unweit von Norilsk ein stalinistisches „Besserungsarbeitslager“. Im Stadtmuseum wurde eine Ausstellung eröffnet, die den Häftlingen gewidmet ist. Auch auf dem Norilsker Friedhof am Berg Rudnaja erinnert ein Gedenkkomplex an die zahlreichen Opfer.
Luft und Wasser
Die Norilsker Industriegebiete wirken sich zweifellos schlecht auf die Umwelt aus. Hauptverursacher von Umweltschäden ist der Nickel- und Palladiumproduzent Norilsk Nickel. Der regionale Chef des Konzerns,
Jewgenij Murawjow, verheimlicht die Probleme nicht. „Sie wissen doch,
welchen Stellenwert der Umweltschutz zu Sowjetzeiten hatte. Jetzt müssen
wir uns mit diesem Erbe herumschlagen“, sagt er und zählt die Programme auf, die in der Stadt zur Verbesserung der Ökologie umgesetzt werden.
Norilsker Nickelwerk. Foto: Pressebild
Das ambitionierteste Vorhaben ist die drastische Verringerung des Schwefeldioxidausstoßes. Wobei ein großes Problem besteht: Die etablierten Verfahren sind in Norilsk nicht anwendbar. Der Direktor erklärt, warum:
In anderen russischen und ausländischen Fabriken wird das gasförmige Schwefeldioxid in Schwefelsäure umgewandelt, die anschließend
verkauft werden kann. Dieses Geschäft rechnet sich
betriebswirtschaftlich nicht, aber die Unternehmen haben keine andere
Wahl – der Umweltschutz hat Priorität. Aber der Abtransport der Säure aus Norilsk ist aus Sicherheitsgründen praktisch unmöglich.
Zur Lösung wurde jüngst ein technologisches Verfahren entwickelt, mit dessen Hilfe aus den Gasrückständen der metallurgischen Produktion Schwefel erzeugt wird. Es soll bis 2019 in zwei Norilsker Werken eingeführt werden. Das neue Verfahren gestattet es, mehr als 95 Prozent des Schwefeldioxids aus
den angereicherten Abgasen zu entsorgen.
Probiert man das Leitungswasser, ist man erstaunt über den guten Geschmack: Moskauer sind daran gewöhnt, dass es nach Chlor schmeckt. Auch die Qualität der Luft scheint vollkommen normal, oder hängt ihre Verschmutzung von den Wetterverhältnissen ab?
Tanzen im Schnee
Psychologen sind sich einig: Der lange Winter, das Defizit an Sonnenlicht, die Umweltverschmutzung führen zu
Depressionen. Die Bewohner von Norilsk lächeln jedoch nicht seltener
als die Einwohner anderer russischer Städte. „Was ist euer Geheimnis?“, wird die Journalistin Natalja Fedjanina vom Fernsehsender „Sewernyj gorod“ (Nördliche Stadt) gefragt. „Sewernyj gorod“ ist eine Tochterfirma von Norilsk Nickel, der Konzern bedient neben seiner Nickelproduktion in Norilsk ein komplettes Kulturcluster.
Natalja bekennt offenherzig ihr Geheimnis im Umgang mit den harten klimatischen Bedingungen. Schon früher hätten sich die Neuankömmlinge bei den Ureinwohnern des Nordens – den Dolganen, Ewenken, Nenzen, Enzen, Nganasanen und anderer Nomadenvölkern – abgeguckt, wie man hier nicht nur überlebt, sondern glücklich lebt.
In der nördlichsten Großstadt der Welt leben 175 000 Menschen. Foto: Pressebild
„Es ist schon seltsam, dass nicht schon früher jemand auf die Idee gekommen ist, sich dafür zu interessieren, was der Winter für diese Völker eigentlich bedeutet, wie diese ihn erleben. Die Nordvölker sind sich darin einig: Der Winter ist gut, er bedeutet Jagd und Fischfang.“ Dann kommen sie auf ihren Zügen durch die Tundra besser voran – Flüsse und Sümpfe frieren zu. Außerdem müssen sie sich nicht, wie im kurzen Sommer, mit den Mückenschwärmen plagen.
„Eigentlich sind auch wir ja jede Woche auf einem Argisch“, sagt Natalja und erklärt, das die indigenen Völker so ihre Wanderungen nennen, bei denen sie von Ort zu Ort ziehen. Das haben sich die Städter abgeschaut: Heutzutage versammeln die Norilsker sich einmal im Jahr zum „Großen Argisch“, um den Anbruch der Polarnacht zu feiern.
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