Das Konservatorium von Saratow. Foto: ITAR-TASS
Die geografische Lage bestimmte in vielerlei Hinsicht das architektonische Schicksal der Stadt: Auf dem Gebiet von Saratow leben bis heute mehr als 135 Nationen, mitunter auch Russlanddeutsche. In der Stadt ist kein Gebäude zu finden, in dem nur ein bestimmter architektonischer Stil einer Nation verewigt wurde.
Ein „Kornspeicher" als Symbol der Stadt
Ein solches Gebäude ist beispielsweise das Konservatorium von Saratow, das in diesem Jahr sein 100-jähriges Jubiläum feiert. In diesen 100 Jahren wurden in ihm zahlreiche glamouröse Auftritte gefeiert, wie jene von Fjodor
Schaljapin, Antonina Neschdanowa oder Leonid Sobinow und hier war es auch, wo die sowjetische Ordnung ihre Macht ausrief. Das vom Architekten Jagn erbaute Konservatorium wurde jedoch stark kritisiert und sogar mit einem Kornspeicher verglichen. Daraufhin wurde es von dem Architekten Kallistratow umgebaut, der ihm Züge aus der späten süddeutschen Gotik verlieh.
Das Konservatorium bietet am Tag perfekte Unterrichtsräumlichkeiten für Studierende und am Abend eröffnet es seine Pforten erneut für die zahlreichen Konzertbesucher. So sind die Orgelkonzerte, die dort stattfinden, essentielle Veranstaltungen für das kulturelle Leben der Stadt. Der Platz vor dem Konservatorium verwandelt sich nachts für die Jugendlichen der Stadt in ein pulsierendes Zentrum, wo sie sich dem ausgelassenen Nachtleben hingeben. Doch den seltenen Touristen bleibt das Konservatorium häufig eher als Geisterschloss, wie viele es aus Horrorfilmen kennen, in Erinnerung.
„Die hässlichste Straße der Stadt" – so wurde im 19. Jahrhundert die Deutsche Straße in Saratower Zeitungen abgestempelt. Doch als die Bedeutung der Wolgadeutschen für das Leben der Stadt zunahm, blühte die Straße auf und wurde zu einem bedeutenden historischen Ort in der Stadt. Mit seinen kleinen Restaurants und Cafés, den weichen Tönen der Häuserfassaden und den zahlreichen Grünflächen lockt die Straße viele Bürger an.
Spuren der Industrie und Unternehmen in der Stadtlandschaft
Die ersten deutschen Dampfmühlen, die unweit vom Ufer der Wolga errichtet wurden, versorgen bis heute viele Saratower mit Mehl. Die modernsten Mühlenunternehmen des 19. Jahrhunderts, die kolossale Mengen an qualitativ hochwertigem Mehl herstellten, gehörten den deutschen Unternehmern Schmidt, Reinecke und Borell. Wenn man an den Wohnhäusern der Unternehmer vorbeispaziert, bemerkt man schnell, dass ihnen viel an gutem Geschmack und Schönheit lag und dass sie dafür auch keine Kosten scheuten.
Besonderes Interesse erweckt das Haus des Müllers Reineke, das unter der Federführung des bekannten Architekten Schechtel erbaut wurde. Schechtel erlangte eigentlich durch seine Bauten in Moskau, der Stadt, in der er seine Kindheit und Jugend verbrachte, große Berühmtheit. Der Architekt konnte diese Stadt nie vergessen und schenkte ihr daher ein einzigartiges Ensemble im Stil der Moderne.
Das Wohnhaus Borells, welches vor kurzem nach seiner Restaurierung neu eröffnet wurde und nun als Standesamt dient, erregt auch heute noch die Aufmerksamkeit jener, die an ihm vorbeigehen. Man sagt, dass Borell diesen „Palast" für seine Geliebte Elena erbauen ließ, weshalb es oftmals auch als „Schloss Elena" bezeichnet wird. Und bis heute taucht an manchen Abenden auf dem Balkon des Schlosses ein Geist in Frauengestalt auf.
Die „geistliche" Architektur Saratows
Vielerorts in der Stadt findet man orthodoxe, katholische und evangelische Kirchen sowie Moscheen und Synagogen. Die Dreifaltigkeitskirche ist die älteste Kirche der Stadt, deren Geschichte bis in das 17. Jahrhundert zurückreicht, und in der Heiligen-Geist-Kirche wurden sogar unter der Sowjetherrschaft Gottesdienste abgehalten.
Die Dreifaltigkeitskirche in Saratow. Foto: Michael Clarke, Flickr.com
Die Staatliche Tschernyschewski-Universität Saratow ist eines der wichtigsten Architekturdenkmäler der Stadt und ein Symbol des Neoklassizismus. Die Gebäude der Universität wurden ab 1909 vom Architekten Karl Müfke erbaut, der es schaffte bis 1914 vier dieser Gebäude zu errichten. Müfke war von seinem Auftrag so angetan, dass er selbst die gesamte Planung übernahm und den Bau beaufsichtigte. Die Stadt kann sich heute mit einem historischen Universitätsgelände rühmen, dessen Zentrum die vier von Müfke erbauten Gebäude bilden.
Restaurierung oder Abrissbirne?
Die Zeit verlangt ihren Tribut und auf den Straßen der Stadt tauchen statt der alten Häuser moderne Gebäude auf. So fielen neben Altbauten auch Denkmäler, wie das Haus von Schechtel, den Abrissbirnen zum Opfer und an ihrer Stelle ragen jetzt Reihenhäuser und Einkaufszentren in den Himmel. Doch manche Altbauten werden gerettet, indem man sie restauriert. Vor kurzem wurde sogar ein Projekt ins Leben gerufen, das sich dem Bau von neuen Häusern im Stil der archaischen Vielvölkerarchitektur widmet. So nimmt die Entwicklung des architektonischen Stadtbilds einen neuen Lauf.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei To4ka-Treff.
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