Seit 1917 ist Moskau ein Magnet für alle Russen. Foto: ITAR-TASS.
Moskau ist ein großes Dorf: Das klingt verwegen, denn bei der Einwohnerzahl von schätzungsweise 14 bis 15 Millionen Menschen ist das ja eigentlich absurd. Bei historisch-philosophischer Betrachtungsweise kommen wir der Sache schon näher.
Als nach der Revolution oder dem Umsturz von 1917 die Hauptstadt wieder nach Moskau verlegt wurde, zog die neue proletarische Macht um und hielt in Moskau Einzug. Adlige und die Intelligenzija der Zarenzeit flohen ins Ausland, wurden verjagt oder umgebracht. Nur einige wenige machten sich unsichtbar und spielten U-Boot. Ungehobeltsein, bäurische oder proletarische Herkunft waren angesagt, lagen mit heutigen Worten gesprochen im Trend. Das alles wurde gemixt mit großer Lebensfreude und dem Wunsch nach Stil, Schönheit und modischer Bekleidung.
Mit dem geregelten Zustrom von jungen Menschen aus dem ganzen Land, um die Moskauer Betriebe mit Arbeitskräften zu versorgen, den so genannten Limitschiki oder der Limita, kam provinzielle und gar dörfliche Atmosphäre in die Stadt. Die neu Zugereisten genossen das hauptstädtische Leben und verliehen ihrer Lebensfreude auch durch ungewöhnliche Bekleidungsmanier Ausdruck.
Oskar Maria Graf schreibt in seinem Buch über seine Reise nach Sowjetrussland, dass er 1934 in Moskau einige Männer im Frack auf der Straße herumlaufen sah. Der Grund dafür hat ihn mehr als verwundert. Auf der Straße wurden preiswerte Fräcke verkauft, die zufällig geliefert worden waren. Und wenn man ihn schon mal gekauft hatte, dann muss man ihn auch tragen.
Nach dem Krieg nahm der Zustrom der Limitschiki noch zu, denn neue Werke wurden gebaut oder die evakuierten wieder errichtet. Und der Moskauer Chick glänzte in allen Facetten. So war es zum Beispiel Mode, dass die Männer Trainingsjacken unter den Anzugjackets trugen, den Kragen weit nach außen geklappt und deutlich sichtbar. Sicher in Ermangelung von modischen Hemden. Ansonsten gibt's über die Männermode nicht viel zu sagen, denn sie war und ist zum Teil noch recht öde. Eine Ausnahme bildeten damals die Stiljagi, junge Leute, die die westliche Mode voll und ganz mitmachen wollten und Rock and Roll, Boogie Woogie und andere nicht erwünschte Tänze vollführten. Sie hatten aber auch die Konsequenzen für ihr „ungebührliches" Verhalten zu tragen.
Die Frauen gehen ohne modische Frisur und Make-up nicht auf die Straße, sie stylen sich vor jedem Ausgang in die Stadt. Zu Sowjetzeiten und heute geben die Frauen den größten Teil ihres Gehaltes für Kleidung und Kosmetik aus. Ihre oft gewagten Outfits kann man unter anderem mit dem akuten Männermangel erklären. Sie müssen auffallen, um einen Mann abzukriegen, meinen sie jedenfalls.
Nach Moskau eingewanderte Dorfbewohner konnten sich von ihren Tieren nur schwer trennen und nahmen sie mit in die Großstadt. Karnickel, Ziegen, Hühner und Gänse bevölkerten Wohnungen und Balkons. Da es kaum Protest gab, hatten sich die Nachbarn wahrscheinlich mit dem Geruch arrangiert.
Ob ins Theater, ob zur Arbeit, ob als Kleindarsteller bei Fernsehshows – die Leute zeigen überbordende Phantasie, was ihr Outfit angeht. Das kleine Schwarze wird schon ab Montag früh im Großraumbüro ausgeführt, Leopardenlook ziert Handtasche, Schuhe, BH und Top. Wen da das Jagdfieber nicht packt, der ist selbst dran schuld.
Die jungen gertenschlanken Mädchen begnügen sich meist mit hautengen Hosen oder edlen Leggings und Tops, die manchmal den Bauch frei lassen. Die stärker gebauten Frauen aller Altersklassen langen tiefer in die Trickkiste, zeigen Busen, hautenge Röcke oder Hosen in grellen Farben. Da muss ein Mann schon blind und taub sein, wenn er diese offenkundigen Signale nicht versteht und nicht zum Angriff übergeht.
An der Kleidung kann man erkennen, wer frisch zugereist ist und Moskau im Sturm erobern will oder wer schon eine geraume Zeit hier lebt und das Outfit etwas herunter geschraubt hat.
Früher verbrachten die Moskauer viel Freizeit auf der Straße, flanierten einfach so vor sich hin. Restaurants und Cafes gab es zu wenig, also ab in die Stadt. Auf Parkbänken wurde dann oft gepicknickt, ganz wie früher zu Hause auf dem Dorf. Inzwischen wird an jeder Stelle eine kleine Trinkgemeinschaft aufgemacht, besonders gern an Metrostationen. Leere Flaschen und Büchsen für sie sammelnden Omis und Obdachlosen werden ordentlich aufgereiht.
Die Hauseingänge in den meisten Häusern, eine Ausnahme bilden die neu gebauten Mittelklasse- und Nobelunterkünfte, erinnern an die Eingänge von Holzhäusern auf dem Dorf. Sie befinden sich immer auf der Rückseite, nie der Straße zugewandt. Die Eingangstür ist eine unansehnliche Holz- oder Eisentür, die keinen Blick ins Innere zulässt. Man geht immer in ein schwarzes Loch, nicht wissend, was einen dort erwartet. So bleibt Moskau immer spannend. Und es schult ungemein. In Überlebenstechnik.
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