Wegfahren, um zu bleiben

Die Identität der Russlanddeutschen bleibt auch in Deutschland erhalten. Foto: ITAR-TASS

Die Identität der Russlanddeutschen bleibt auch in Deutschland erhalten. Foto: ITAR-TASS

Wegen des beständigen Strebens nach vorne und auf Grund ihrer Migrationsmobilität, wurden die Russlanddeutschen einst als „Volk auf dem Weg“ bezeichnet. Ihr Schicksal ist ein markantes Beispiel dafür, was mit Menschen während des Migrationsprozesses geschieht.

Im Laufe des Jahrhunderts sind die Russlanddeutsche in verschiedene Länder ausgereist: Deutschland, Kanada, die USA und andere. Diejenigen, die geblieben sind, sahen einige Emigrationswellen. Das größte Ausmaß hatte die Ausreise am Ende des 20. Jahrhunderts. Allerdings kommt die Identität vieler Russlanddeutschen so stark zum Tragen, dass sie sich manchmal dazu gezwungen sehen, dorthin zurückzukehren, wo sie geboren und aufgewachsen sind.

In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts sind nicht einfach nur einzelne Familien nach Deutschland ausgereist, sondern auch ganze Dörfer. Jeder

hatte seine eigenen Gründe für die Ausreise. Häufig wanderte man auf der Suche nach ökonomischer und sozialer Stabilität aus. Doch es gab auch diejenigen, deren Ausreise durch die ständiger Feindseligkeit motiviert war, die ihnen ständig entgegenschlug.

„In der Schule wurden wir nach dem Unterricht geschlagen, einfach, weil wir Deutsche sind. In den Hochschulen konnten wir uns nur für landwirtschaftliche Fachrichtungen einschreiben, medizinische oder gar technische Abteilungen blieben uns verschlossen", erzählte ein Einwohner aus der sibirischen Stadt Omsk.

Am Anfang der 1990er Jahre konnte man ohne besondere Schwierigkeiten ausreisen und in Deutschland unterkommen. Die wichtigste Bedingung war, dass ein Familienmitglied deutscher Abstammung war. In einem solchen Fall wurde die Aufenthaltsgenehmigung innerhalb eines Jahres erteilt.

Gegen Ende der 90er Jahre schien es so, als ob niemand mehr auswandern wollte, doch die Migration nach Deutschland hält bis heute an. Die erschwerten Einreisebestimmungen (verpflichtende Sprachkenntnisse, Zugehörigkeit zu den Russlanddeutschen, Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung innerhalb von zwei bis fünf Jahren) waren der Grund für den Rückgang des Migrationsflusses der Russlanddeutschen ins Ausland, doch die Emigration kam nicht völlig zum Erliegen. In der Hoffnung soziale und wirtschaftliche Stabilität zu finden, strebten weiterhin viele Russlanddeutsche nach Deutschland.

Heute handelt es sich zu meist um Arbeitsmigration. Die Kinder derjenigen, die irgendwann aus familiären Gründen geblieben sind, streben danach auszureisen. Das Alter der jungen Leute reicht von 20 bis 35 Jahre. Heute geben sie alles dafür, um ihren Traum zu verwirklichen. Doch das klappt nicht bei allen. Ein markantes Beispiel dafür ist die russlanddeutsche Lehrerin Olga Schtrek  aus Omsk.  „Zur rechten Zeit auszureisen hat nicht geklappt",  sagt die 31-Jährige. "Jetzt bin ich nicht mehr in dem Alter, um noch einmal von Null anzufangen, ja und das Leben hat sich mehr oder weniger stabilisiert... Mich halten die Leute hier". Doch in ihren Worten liegen Zweifel: „Wenn es die 100-prozentige Chance gäbe auszureisen, dann denke ich nicht, dass ich absagen würde."

Die heutigen Immigranten sind diejenige, die nichts zu verlieren haben – wenig Lohn, keine eigene Wohnung. „Man muss sowieso wieder alles von vorne beginnen. Mich hält hier nichts: keine Familie, die Arbeit ermöglicht mir kein gutes Leben", bemerkt Andrej Wasemiler, der früher in Omsk gewohnt hat und jetzt in Deutschland lebt. Doch auch wenn sie hier wohnen, sind er und seine Familie weiterhin Russlanddeutsche. Sie begehen die Feiertage in der Tradition, wie sie ihnen von Opa und Ur-Opa übergeben wurde. Die Identität der Russlanddeutschen bleibt auch in Deutschland erhalten.

Es gibt heute auch diejenigen, die einst ausreisen wollten und sogar schon die Erlaubnis zur Ausreise bekommen haben, es dann aber nicht taten – das sind Menschen der älteren Generation, Leute über 50. Sie sehen nichts Anziehendes darin, alles hinzuwerfen und ins Ausland auszureisen. „Wozu soll ich dort hinfahren? Was soll ich da machen? Hier habe ich Freunde, zu denen ich einfach ohne Einladung kommen kann und mich unterhalten kann. Und was gibt es dort? Dort läuft alles nach der Uhr, nach schriftlicher Anmeldung. Ich kann das so nicht und komme sowieso zurück. Lohnt es sich also auszuwandern?", sagte uns eine Frau, die in einem deutschen Dorf im Nasywajewski-Bezirk im Gebiet Omsk geboren wurde.

Manchmal erscheint die ethnische Zugehörigkeit zu den Russlanddeutschen als so markant, dass es sie zurück nach Russland zieht. 

Nachdem er mit seinen Eltern als einer der ersten ausgereist war und ungefähr 12 Jahre in Deutschland lebte, kehrte Igor Wolter in sein Dorf zurück, wo sich praktisch nichts verändert hat: „Dadurch, dass ich in Deutschland gewohnt habe, bin ich viel durch Europa gefahren. Es war interessant, doch Russland zog mich an. Hier hat alles Herz und Seele, was einen umgibt. Hierher will man zurückkehren. Mein Dorf hat auch heute noch kein Mobilfunknetz. Doch trotz der instabilen Situation in Russland, bin ich Russlanddeutscher und werde immer hier leben", erzählt Igor, der jetzt erneut im Dorf Litkowka im Gebiet Omsk wohnt.

Doch nicht nur die junge Generation kehrt zurück, sondern auch ältere Menschen. Ihre Argumente sind weitaus abgewogener, als die der jungen. „Ja, wir arbeiten gerne, aber nicht erzwungen und nicht unter Beaufsichtigung. Es steht uns selbst frei unsere Arbeitszeit zu bestimmen. Deshalb haben wir nicht den Wunsch dort zu leben, man kann nach Deutschland einmal im Jahr fahren und das ist genug.", bemerkt ein Ehepaar mit Familie aus dem Deutschen Nationalgebiet im Altai.

Nach 20 Jahren seit dem Beginn der postsowjetischen Emigrationswelle der Russlanddeutschen, ist der Prozess noch nicht abgeschlossen. Selten kommen diejenigen zurück, die damals ausgereist sind. Doch schon die Aussiedler späterer Wellen kehren hin und wieder zurück: Sie finden im heutigen Deutschland nichts, was sie dort halten könnte. Lohnt es sich also auszuwandern, wenn man sowieso wieder zurückkehren muss?

 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei To4ka-Treff.

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