Durch das 3. Energiepaket werden Gazprom die Hände gebunden. Das Unternehmen darf das Gas nur noch in eigenen Röhren bis an die Grenzen der EU leiten. Auf dem Bild: Das Gasvorkommen Sapoljarnoje in Nordsibirien. Foto: Pressebild
Neue Pipelines nach Europa
Die ständigen Gaskonflikte mit der Ukraine haben dazu beigetragen, neue kostenträchtige Pipelines zwischen Russland und dem Alten Europa zu bauen. Die Bauzeit der 1200 Kilometer langen Nord-Stream-Pipeline durch die Ostsee nach Deutschland war selbst nach den Maßstäben des sozialistischen Wettbewerbs rekordverdächtig: Der erste Strang ging im November 2011 nach sechs Jahren, der zweite im Oktober 2012 in Betrieb. Die Gasleitung wird, wie im Oktober Gazprom-Vorstandsvorsitzenden Alexej Miller bekanntgab, Abzweigungen nach Finnland und Großbritannien erhalten. Die Kapazität der Gasmagistrale wird dann 100 Milliarden Kubikmeter pro Jahr erreichen, ungefähr genau so viel, wie jetzt auf dem Landweg durch die Ukraine gepumpt wird.
Die South-Stream-Pipeline kommt dagegen langsamer voran. Sie soll durch das Schwarze Meer nach Bulgarien und dann weiter über Griechenland nach Italien bzw. mit Überlandleitungen über Serbien und Ungarn bis nach Österreich führen. Zwar wurde das Projekt schon Anfang 2009 zwischen Gazprom und der bulgarischen Energieholding beschlossen. Aber erst am Anfang Dezember 2012 wurde in Anapa am Schwarzen Meer offiziell mit dem Bau der Leitung begonnen. Jeder der vier geplanten Stränge ist für eine Transportkapazität von rund 16 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr vorgesehen. Die erste Lieferung ist für Dezember 2015 geplant, der reguläre Geschäftsbetrieb soll dann im ersten Quartal 2016 aufgenommen werden.
Europäische Energiepolitik
Die beiden Pipelines könnten den Transit durch die problembehaftete Ukraine vollständig ersetzen. Moskau wird jedoch auf diesen Lieferkanal
Erweiterung von Nord Stream ökologisch heikel
nicht verzichten. Das liegt nicht allein daran, dass die gegenwärtige ukrainische Regierung in Kiew ein deutliches pro-russisches Verhältnis zu Moskau hat. Vor allem ist es das sogenannte "Dritte Energiepaket" der Brüsseler Energiepolitik. Es wurde 2009 beschlossen, um die Strom- und Gasmärkte in der EU weiter zu liberalisieren und die Verbraucherrechte zu stärken. Insbesondere ist die Trennung des Netzbetriebs von Versorgung und Erzeugung vorgesehen, entweder durch eigentumsrechtliche Entflechtung sowie durch Schaffung unabhängiger Netzbetreiber. Diese Maßnahmen zur Eindämmung der wirtschaftlichen Einflussmöglichkeiten großer Energiekonzerne hat auch die Euphorie Moskaus merklich abgekühlt. Die Bedingungen des Regelwerkes müssen nämlich so gelesen werden, dass ein einzelner Lieferant bzw. Erzeuger nicht mehr als die Hälfte der Pipelinekapazitäten nutzen darf.
Michail Krutichin, Analyst beim russischen Beratungs- und Verlagshaus RusEnergy, glaubt, 50 % der Kapazität der Nord-Stream-Stränge würden gar nicht genutzt. Denn Europa frage nur verhalten Gas nach, und in Deutschland stagniere das Geschäft. Die offizielle Statistik bestätigt seine Einschätzung. Über das letzte Jahr lag die Auslastung beim ersten Strang mit gerade einmal neun Milliarden Kubikmeter nur bei 30 bis 40 % der projektierten Kapazität.
Wissenschaftler des Energiezentrums der Wirtschaftshochschule Skolkowo haben dafür eine Erklärung: Auf dem europäischen Markt würde sich das
Risiko für den Absatz von russischem Gas verstärken. Deswegen auch das Projekt der Nabucco-Pipeline von der Türkei nach Österreich und Anrainer, das Gasfelder am Schwarzen Meer erschließen und die Abhängigkeit von der mächtigen Gazprom verringern soll. Die Prognose der Wissenschaftler: Die vertraglich abgesicherte Nachfrage werde bis mindestens 2018 nicht steigen, das Volumen des spontan getätigten Spothandels an den Energiebörsen dahingegen mit großem Tempo zunhmen, etwa mit 30 bis 40 % pro Jahr. Im Ergebnis sei mit einer Abnahme der kommerziellen und politischen Attraktivität russischen Gases bei gleichzeitiger Zunahme des Bedarfs von Flüssigerdgas und der langfristigen Substitution von Gas durch Kohle zu rechnen.
Durch das 3. Energiepaket werden dem Gazprom-Chef Alexej Miller die Hände gebunden. Sein Unternehmen darf das Gas nur noch in eigenen Röhren bis an die Grenzen der EU leiten, danach würden es ihm andere Gesellschaften abkaufen und mit dem Endkunden eigene Rechnungen aufmachen. Der Traum von der eigenen Brücke vom russischen Gasfeld bis in die europäischen Kraftwerke ist geplatzt.
Moskau und Berlin versuchen gemeinsam, das Problem herunterzuspielen. Mitte November forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass entgegen dem 3. Energiepaket Deutschland auf einer hundertprozentigen Auslastung der Pipelinekapazitäten in der Europäischen Union beharrt. Solange keine alternativen Wettbewerber auftauchten, werde Gazprom als Monopolist weiter liefern. Besteht hingegen Brüssel auf der exakten Einhaltung des 3. Energiepakets, wird Moskau wohl oder übel an den Verhandlungstisch mit Kiew und Warschau zurückgezwungen, um den dort bestehenden Bedarf langfristig zu decken.
Die Gefahr der Schiefergasrevolution
Während Moskau auf neue Gaspipelines setzt, spielen die USA als Land mit dem größten Energieverbrauch eine andere Karte: Schiefergas, Schieferöl und Ölsande. Seitdem die Obama-Administration die Förderung alternativer Energiequellen bezuschusst, ist der Gaspreis im freien Fall. Der Kurs sackte seit dem Hoch 2008 um rund 80 Prozent ab. Insbesondere die Gewinnung von Schiefergas erschließt bislang unerreichbare Vorräte und beschert den USA einen wahren Energie-Boom. Man spricht schon von einer "Schiefergasrevolution" in den USA. Vorerst verdrängt das Schiefergas die traditionellen Erdgasimporteure nur vom amerikanischen Markt. Aber bei dem gegenwärtigen Wachstumstempo können die USA in zehn Jahren zu einem ernstzunehmenden Lieferanten von Flüssigerdgas auf dem Weltmarkt werden. Nach Berechnungen der Skolkowoer Wissenschaftler könnten die USA den Europäern das Gas für 320 US-Dollar pro tausend Kubikmeter anbieten. Gleichviel könnte auch das Gas kosten, das Polen aus seinem Schiefer durch das Fraking-Verfahren gewinnen will.
Auf Nachfrage von Präsident Putin hat Gazprom im letzten Oktober den Markt analysiert und danach erklärt, dass das Unternehmen die Förderung von Schieferöl erforscht, aber vorerst nicht auf Schiefergas setze. Und das, obwohl Russland über umfassende Schiefergasressourcen verfügt: Rund sieben Prozent der globalen Reserven befinden sich hier, zum größten Teil in leicht zugänglichen Regionen, wie im Gebiet St. Petersburg oder im Wolgagebiet. Diese Chancen sieht Walerij Jasew, Chef der Russischen Gasgesellschaft und Abgeordneter der Duma: „Zukünftig könnten die höheren Förderkosten für Schiefergas durch geringere Transportkosten kompensiert werden. Zuvor müssen wir jedoch die Ergiebigkeit der Lagerstätten erkunden und die Kosten für die Gewinnung abschätzen. Allein das wird etwa zehn bis 15 Jahre in Anspruch nehmen.
Asien lockt
Hauptabsatzmarkt für russisches Gas ist unzweifelhaft Europa. Doch Moskau sucht aktiv nach Alternativen. Da liegt asiatische Länder auf der Hand: Die Nachfrage nach Energierohstoffen explodiert in den nächsten Jahren in Asien. Alleine in China wird sich nach Einschätzungen des Kompetenzzentrums der Wirtschaftshochschule Skolkowo bis zum Jahre 2030 die Nachfrage auf 450 Milliarden Kubikmeter pro Jahr verdreifachen.
Der aussichtsreiche chinesische Markt, der über den Landweg von Russland zu erreichen ist, sei jedoch nach Meinung von Konstantin Simonow, Generaldirektor des Fonds für nationale Energiesicherheit, problematisch: China erweise sich in den Verhandlungen als recht hart und preissensitiv. Auch die russische Position kann Simonow nicht nachvollziehen: Als Rohstoffquellen sollen nicht etwa neue Lagerstätten in Ostsibirien, sondern die alten westsibirischen Gasfelder dienen: „Gas vom europäischen Markt abzuziehen und stattdessen an die Chinesen zu verkaufen ist ein recht aussichtsloses Konzept."
Indien wäre ein weiterer alternativer Markt für ostsibirisches Gas. Anfang Oktober schloss Gazprom ein Abkommen über die Lieferung von Flüssigerdgas an das indische Unternehmen Gail mit einer Laufzeit von zwanzig Jahren und verfügt über ein Absichtsprotokoll mit weiteren indischen Energiekonzernen. Ab 2019 soll Gail jährlich 2,5 Millionen Tonnen Flüssiggas erhalten. "Indien ist – aus Sicht der Energieversorgung – Chinas Zwilling und könnte für Russland ein genauso attraktiv werden", sagt Simonow. Das Gasabkommen mit Indien gestattet es Russland nämlich, seine Verhandlungsposition gegenüber China zu stärken.
Resümee
Wenn die russischen Erdgasproduzenten ihre Lieferungen als Antwort auf das 3. Energiepaket der EU nach Europa drosseln, könnten sie dem Preisverfall durch alternativ gewonnenes Gas auf dem Weltmarkt entgegenwirken. Gleichzeitig bieten sich mit China und Indien neue und große Absatzmöglichkeiten im asiatischen Raum. Russland könnte seine Vormachtstellung auf dem Energieweltmarkt sogar noch weiter ausbauen, wenn auch alternative Energiequellen - Schiefergas, Schieferöl und Ölsande - angegangen würden. Die Zeit drängt.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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