Wladimir Tschischow.Foto: AFP/East News |
Kommersant: Wie bewerten Sie den gegenwärtigen Zustand der Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der EU? Ernsthafte Differenzen existieren in den verschiedensten Fragen. Angefangen bei der Bewertung der Situation in Syrien und dem Konflikt mit dem Iran bis hin zur Kritik der Ergebnisse der Wahlen in Weißrussland und der Ukraine. In der Europäischen Union gibt es auch eine Diskussion über Gazprom und viele unterschiedliche Meinungen zur politischen Situation in Russland.
Wladimir Tschischow: In der Beziehung zwischen Russland und der Europäischen Union gibt es positive und negative Momente, Russland stellt diesbezüglich übrigens keinen Einzelfall dar. Wenn Sie die Frage stellen, ob es denn mit der Europäischen Union einfach sei, so bin ich mir sicher, dass die meisten Staaten der Welt, zumindest die führenden Staaten, mehr oder minder gleichermaßen antworten würden: Die Europäischen Union war nie ein leichter Partner, ist es gegenwärtig nicht und wird es auch nie sein.
Sie haben eine Reihe komplizierter außenpolitischer Themen angeschnitten. In diesen Bereichen stimmen unsere Ansichten tatsächlich nicht überein. Aber es gibt auch andere, positive Beispiele. Wir arbeiten mit der Europäischen Union im Rahmen des Nahost-Quartetts zusammen, wir kooperieren hier bei Fragen der strategischen Stabilität. Selbstverständlich gibt es kritische Fragen auf Seiten der Europäischen Union, darunter auch zur Situation in Russland. Aber auch wir haben ab und an Fragen zu den Problemen in der Europäischen Union, darunter zur Einhaltung der Menschenrechte.
Warum ist es nicht gelungen, die Aufhebung der Visapflicht für Inhaber von Dienstreisepässen zu ermöglichen und dadurch einen Prozess der wesentlichen Liberalisierung der Visaregelung zu initiieren?
Laut Statistik wurden 2011 mehr als fünf Millionen Schengen-Visa an russische Bürger ausgestellt. Die Zahl der russischen Visa, die Bürgern der Europäischen Union erteilt wurden, ist um einiges geringer, aber immer noch eine beeindruckende Größenordnung. Wir führen zurzeit zwei Verhandlungsprozesse. Der erste betrifft die Umsetzung gemeinsamer Schritte, die zur Abschaffung der Visapflicht führen. Der zweite ist die Verbesserung des Abkommens über Visaerleichterungen aus dem Jahre 2006. Im Rahmen der zweiten Verhandlungsrunde haben wir uns einer raschen Verabschiedung einer überarbeiteten Fassung des Abkommens von 2006 sehr stark angenähert. Die Rede ist hier von einer Ausdehnung der Vergabepraxis für Multi-Visa, der Konkretisierung offener Fragen sowie der Vereinfachung einiger Prozeduren. Bei der Erörterung der Anpassung des gegenwärtig geltenden Abkommens schlug Russland vor, Visafreiheit für Inhaber von Diplomatenpässen auf Kurzreisen zu ermöglichen.
Warum ist der Visaliberalisierungsprozess steckengeblieben? Unsere Partner in der EU hat von Anfang an die Anzahl der Inhaber von Dienstreisepässen in der Russischen Föderation verwundet, obgleich deren Zahl immer noch kleiner ist als in der EU selbst. Die große Zahl hängt in erster Linie damit zusammen, dass die Dienstreisepässe an russische Militärangehörige ausgegeben werden, die ihren Dienst auf dem Territorium von GUS-Staaten ableisten. Meiner Meinung nach hat es den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union einfach nur am politischen Willen dafür gefehlt, eine Übereinkunft zur Aufhebung der Visapflicht für Bürger zu erzielen.
Wie wird die Situation sich nun weiter entwickeln?
Lassen Sie uns abwarten, wie die Verhandlungen verlaufen werden – ich möchte deren Ergebnisse nicht vorwegnehmen. Unserer Einschätzung nach ist ein Großteil der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bereit, eine solche Übereinkunft zu treffen.
Was die erste Verhandlungsrunde betrifft: Wird es denn im ersten Halbjahr 2013 gelingen, die Ausarbeitung des Abkommens zur Aufhebung der Visapflicht aufzunehmen?
Technisch und organisatorisch existiert eine solche Möglichkeit. Ob die erwähnten Fristen eingehalten werden, ist wiederum eine Frage des Vorhandenseins des notwendigen politischen Willens.
Wie wahrscheinlich ist es, dass die Europäischen Union eine Art „Magnitzkij-Gesetz" verabschiedet?
Solche Diskussionen gab es im Europaparlament bereits. Ich denke, dass der gesunde Menschenverstand die Oberhand erlangen wird und es zur Verabschiedung eines solchen Gesetzes auf EU-Ebene nicht kommen wird.
In welchem Stadium befinden sich die Verhandlungen über ein neues Grundsatzabkommen zur Zusammenarbeit zwischen der Russischen Föderation und der Europäischen Union?
Wir haben den gemeinsamen Beschluss über die Notwendigkeit der Ausarbeitung des neuen Grundsatzabkommens bereits im Jahre 2006 gefasst. Aber erst 2008, nachdem die Außenminister der Europäischen Union ein entsprechendes Mandat gebilligt hatten, wurden die Verhandlungen aufgenommen. Seit dem wurden bereits zwölf offizielle Gesprächsrunden durchgeführt. Danach gab es eine technische Unterbrechung, da es notwendig war, jene Bedingungen zu klären, unter denen Russland der WTO beitritt. Gegenwärtig verharrt der Verhandlungsprozess formell immer noch im Zustand der technischen Unterbrechung, allerdings werden inoffizielle Gespräche geführt, so wurde der Prozess der Wirtschaftsintegration im eurasischen Raum aktiviert.
Hat das einen Einfluss auf die Verhandlungen mit der Europäischen Union?
Ja, das muss alles berücksichtigt werden, weil Russland ein ganzes Paket Kompetenzen von der nationalen Ebene auf die Ebene der Eurasischen Wirtschaftskommission übertragen hat.
Was ist vom turnusmäßigen Gipfeltreffen im Dezember zu erwarten? Wird man denn irgendwelche entscheidende Dokumente unterzeichnen?
Der Erfolg oder Nichterfolg einer solchen Veranstaltung misst sich nicht an der Zahl der unterzeichneten Dokumente. Bei den meisten Gipfeltreffen wurden keinerlei Abschlussdokumente verabschiedet. Das hat sie jedoch nicht minder erfolgreich sein lassen. Es geht nicht um irgendwelche pompösen Zeremonien, sondern um die Inhalte der Diskussionen, die auf den Gipfeltreffen stattfinden, und um die Inhalte jener Übereinkünfte, die in diesem Rahmen erzielt werden. Auch wenn dies lediglich mündliche Vereinbarungen sind.
Die ungekürzte Fassung dieses Beitrags erschien zuerst bei Kommersant.
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