Die Kluft zwischen Arm und Reich wird in Russland immer größer. Foto: Lori / Legion Media.
Es ist ein allseits bekanntes Klischee: Russland ist ein Land mit wenigen Ultrareichen, die den Rohstoffreichtum des Staates plündern, während Millionen von Menschen unter der Armutsgrenze leben und nur mittels finanzieller Unterstützung vom Staat und Niedrigstlöhnen knapp über die Runden kommen.
Trotz einer immer größer und stabiler werdenden Mittelschicht bestätigen Statistiken jedes Jahr eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Laut der in der Zeitung Rossijskaja Gaseta veröffentlichten Forschungsergebnisse von Wealth-X, einem Anbieter von Business-Development-Lösungen rangiert Russland auf Platz zwei in einem internationalen Ranking hinsichtlich der Anzahl an Milliardären: Das Land beherbergt 97 Milliardäre – das ist ein Plus von 17 Superreichen gegenüber 2011, als in Russland insgesamt 80 Milliardäre (größtenteils Männer) über ein Gesamtvermögen von 290 Mrd. Euro verfügten.
Die 18 Millionen Russen, die unter der Armutsgrenze leben, besitzen insgesamt gerade einmal 9,6 Mrd. Euro. Denn der vom Staat festgelegte Mindestlohn in Russland beträgt derzeit nur 116 Euro pro Monat – und das bei Mindestlebenshaltungskosten von geschätzten monatlichen 156 Euro.
Die FBK, eine russische Revisionsgesellschaft, stellt dem größten Land der Welt kein gutes Zeugnis aus. Sie hat Russland kürzlich in die untersten Reihen einer aus insgesamt 52 Ländern bestehenden Tabelle versetzt, die das Verhältnis zwischen Mindestlöhnen und der Kaufkraft in den jeweiligen Ländern bestimmt. Der Grund dafür: Das Gleichgewicht zwischen Mindestlöhnen und Lebenshaltungskosten in Russland ist mehr als nur asymmetrisch.
Laut dem vom Föderalen Statistikdienst ROSSTAT veröffentlichten Vermögenskoeffizienten, einem Indikator, der das Verhältnis zwischen der reichsten und der ärmsten Bevölkerungsschicht in einem Land misst, sind Reiche noch reicher geworden, wohingegen die Situation der Armen unverändert geblieben ist. So betrug der Koeffizient 13,5 im Jahr 1995 und ist seither, trotz eines leichten Rückgangs in der Wirtschaftskrise, stetig bis 16,1 im Jahr 2011 gewachsen.
„Dieser Indikator wächst konstant, was ein Beleg für die immer größer werdende Schere zwischen den Reichsten und den Ärmsten in der Gesellschaft ist", so Anna Bogdjukewitsch, Wirtschaftsanalytikerin bei der Investitionsgesellschaft ATON Capital Group. „Das rasante Wachstum ist ein Trend, der in den Neunzigern begann und in den letzten Jahren weiter andauerte."
Wenn man allerdings etwas tiefer in die Materie eindringt, bekommt das Bild neue Konturen: Das BIP ist von 200 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf den heutigen Stand von 1,4 Billionen Euro gestiegen, wobei immer weniger Russen unter der statistisch determinierten Armutsgrenze leben. Demnach scheint der steigende Lebensstandard in Russland bis in die ärmsten Schichten der Gesellschaft vorgedrungen zu sein.
Laut Natalja Bondarenko, einer Soziologin am Meinungsforschungszentrum Lewada, haben gegen Mitte und Ende der Neunziger 15 bis 20 Prozent der Russen angegeben, ihr Einkommen reiche gerade zum Überleben, wohingegen dies heute nur noch fünf bis sechs Prozent der Russen aussagen.
Auch die soziale Zusammensetzung der Ärmsten in Russland soll sich verändert haben. Laut Bondarenko waren in den Neunzigern die ärmsten Russen Pensionäre und jene, die in staatlich finanzierten Organisationen tätig waren; heute hingegen sind es Russen im arbeitsfähigen Alter, die Familien haben und sich nicht am Arbeitsmarkt behaupten konnten, beziehungsweise jene, die überhaupt keine Arbeit gefunden haben. Die Gründe dafür könnten darin liegen, dass der Staat zu wenig daran gesetzt hat, die Armut im Land mittels gesetzlicher Maßnahmen zu reduzieren und stattdessen zu viel Hoffnung in staatliche Unterstützungen gesteckt hat. Dies ist besonders bei den Pensionen erkennbar: Statistiken zeigen, dass es letztes Jahr einen stetigen Anstieg bei den Pensionszahlungen auf durchschnittlich 206 Euro pro Monat gegeben hat.
Laut Natalja Bondarenko hätten Zahlungen vom Staat dazu verholfen, Beamte und Pensionäre über die Armutsgrenze zu bringen. Die Regierung wird jedoch kritisiert, dass sie mit Staatsgeldern nur das Problem bekämpfe, aber nichts gegen die Ursachen unternehme. Die Soziologin rät daher dazu, die Mindestlöhne anzuheben: „Die Regierung pumpt nur Geld hinein – eine solche Politik wird in keinem europäischen Staat praktiziert. Es wird den Leuten nicht die Angel in die Hände gegeben, um zu fischen – es wird ihnen der Fisch gegeben. Das Ergebnis ist, dass die Menschen abhängig werden."
Laut ROSSTAT leben insgesamt 18 Millionen Menschen, also etwa 13 Prozent der russischen Bevölkerung, unter der Armutsgrenze. Analytiker hingegen meinen, dass die tatsächliche Anzahl der Ärmsten viel höher liege. So sagt beispielsweise Bogdjukewitsch: „Die Armutsgrenze in Russland ist sehr niedrig. Wenn wir unsere Werte mit europäischen Indikatoren vergleichen, haben wir einen auffällig niedrigeren Richtwert für die Armutsschwelle. Deshalb scheint es, dass wir weniger Menschen haben, die unterhalb der Armutsgrenze leben."
Dank einiger anderer russischer „Launen" schneidet das Land auch im Vergleich zu anderen Ländern hinsichtlich des Gini‑Indexes – ein Indikator, der das Maß der Gleich- oder Ungleichheit in der Vermögensverteilung durch Heranziehung anderer Wohlstandsindikatoren wie Vermögen misst – besser ab. Gemäß dem Gini‑Index gilt: Je näher der Wert eines Landes bei Null liegt, desto gleichmäßiger ist sein Vermögen im Land verteilt. So hat Russland 2010 den Wert 42 erzielt (2001: 39,9), was dem Land eine gleichmäßigere Vermögensverteilung zuspricht als den USA und den BRICS-Staaten.
Diese gute Platzierung im Ranking erreichte Russland allerdings nur aufgrund bestimmter Ereignisse – dem Zerfall der Sowjetunion etwa, der eine Welle an Massenprivatisierungen von Immobilien auslöste, als die Regierung staatseigene Wohnungen einfach zum Privatbesitz seiner Bürger erklärte.
Die Statistiken sind aber auch deswegen wenig aussagekräftig, weil die Reichen dafür bekannt sind, ihren Reichtum außer Landes zu schaffen. So legen viele Superreiche ihr Vermögen erst gar nicht bei Banken an – die Statistik wird dadurch verfremdet.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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