Foto: Artjom Sagorodnow
24. Februar 2013. Der Tag begann sehr früh, draußen war es noch dunkel. Nach einem Frühstück im Hotel um 7 Uhr versammelten sich alle Journalisten in Vans und die Rennfahrer in ihren Geländewagen um einen Leuchtturm im Hafen von Murmansk. Vor uns erstreckte sich der Arktische Ozean. Hier war nun der offizielle Startpunkt der jährlich stattfindenden Rallye, die uns mehr als 16 000 Kilometer quer durch das Land führen und die bei einem anderen Leuchtturm in Wladiwostok enden würde.
Dieses Mal nahmen an der Winterexpedition besondere Rallyefahrer teil: ein Team mit Priestern der russisch-orthodoxen Kirche. Einer von ihnen sprach ein Gebet, bevor er alle Geländewagen mit Weihwasser segnete. Ein Feuerwerk signalisierte schließlich den Start des Rennens und schon ging es los: Die Jeeps glitten förmlich einer nach dem anderen einen sanften Hang hinunter und begaben sich auf den ersten schwierigen Streckenabschnitt unweit der Stadt.
In der Zwischenzeit wurde ich von Natalja, einer Rettungsärztin, professionellen Fallschirmspringerin und ehemaligen Mitarbeiterin des russischen Ministeriums für Katastrophenschutz, darauf aufmerksam gemacht, dass ich viel zu wenig anhabe. So würde ich dem um uns tobenden Schneesturm und den Minustemperaturen nicht standhalten. Sie zog mir kurzerhand einen Anorak von einer vergangenen Expedition an.
Natalja war, bis auf zwei Rallyes, bei jeder Expedition Trophy als Ärztin dabei gewesen, das heißt seit 2005, als die erste Winterrallye stattfand. Es beruhigte mich zu hören, dass sie in all den Jahren noch niemanden wegen ernsthafter Verletzungen verarzten musste. Genauso auch meine Konkurrenten, denn die würden in Notsituationen zu Samaritern. Schließlich sind diese verpflichtet, ihren Konkurrenten in Situationen, in denen diese verletzt sind oder nicht mehr weiter können, beizustehen, auch wenn die Hilfeleistung eine Verspätung für die Fahrer nach sich ziehen würde. In Situationen wie diesen war Natalja am häufigsten im Einsatz, wie sie mir erklärte.
Eine Stunde nach unserem Start waren wir bereits bei einer Klippe angelangt und überblickten ein kleines Tal. Dies war der erste ernstzunehmende Streckenabschnitt, den wir bewältigen mussten.
Die Wagen fuhren nebeneinander in einer Linie auf, um die verschneite Strecke passieren und Schneehügel überwinden zu können, die höher waren als jeder durchschnittliche Fahrer. Dabei musste jedes Auto seine eigene Strecke überwinden – insgesamt waren es 15 Spuren, die farbig voneinander abgetrennt waren.
Jedes Team hatte seine eigene Strategie. Die einen teilten sich in Gruppen auf und versuchten mit Schaufeln und elektrischen Kettensägen die höheren Schneehügel zu ebnen. Andere wiederum rasten direkt durch das Gelände hindurch und blieben irgendwo im Schnee stecken. Dann mussten alle aussteigen und beim Rausschaufeln des Wagens mithelfen. Wieder andere manövrierten vorsichtig durch das unebene Terrain, wobei Teammitglieder vorher Plastikmatten auslegt hatten, damit das Auto im schwierigen Gelände besser vorankommt.
Zehn Teams schafften es, den Streckenabschnitt in den vorgegebenen 90 Minuten zu passieren. Die Zurückgebliebenen wurden abgeschleppt und mussten auf ihre Punkte verzichten.
Während ich mittendrin im Geschehen war, teilte mir einer der Organisatoren mit, dass ich die nächsten Tage mit dem Team „Trust“, das die gleichnamige russische Bank vertritt, verbringen würde.
Die Bank „Trust“ hat nationale und auch internationale Bekanntheit erlangt, als sie den Hollywood-Schauspieler Bruce Willis für ihre Werbekampagne engagiert hatte. Nun blickt der Star von Plakaten auf Moskau herab und beeindruckt mit coolen Sprüchen wie: „Trust ist wie ich, aber eine Bank.“ Die Bank hat nie verraten, wie viel sie dem Helden aus „Stirb langsam“ dafür bezahlt hat. Doch eines ist sicher: Sie tut alles für ein starkes Image. So nahm das Trust-Team nun auch schon das vierte Mal an der Rallye teil.
Viele Teams sind nicht gerade darüber erfreut, dass sie für Leute von der Presse die Babysitter spielen müssen. Aus diesem Grund hielt der Chefjuror der Veranstaltung in Murmansk am Abend vor Rennbeginn den Journalisten eine strenge Predigt, gleichwohl einige schon etwas angetrunken waren. Wir wurden darüber aufgeklärt, wie man sich als Journalist gegenüber den Teams, bei denen man mitfährt, zu verhalten habe.
Und so lauteten die Regeln: Es sei uns nicht erlaubt, in irgendeiner Weise in das Geschehen einzugreifen. Dazu gehöre etwa, Ratschläge zu erteilen, nach denen wir nicht gefragt würden, laute Musik während der Fahrt so zu hören, extrem lange Toilettenpausen zu machen, Anweisungen nicht Folge zu leisten oder alles andere, was die Teilnehmer so verärgern könnte, dass, wie das angeblich schon einmal zuvor passiert war, sie einen nervigen Reporter bei Temperaturen von 40 Grad unter Null mitten in Sibirien stehen ließen.
Ich war ungemein beruhigt, als ich von meinen neuen „Trust-Kumpels“ mit offenen Armen im Auto willkommen geheißen wurde und auch gleich belegte Brote angeboten bekommen habe – das Rennen war nämlich für die Mannschaft ein Team-Building-Ausflug. Froh war ich übrigens auch, als ich erfahren habe, dass eines der Teammitglieder in einem landesweiten Offroad-Wettbewerb Zweiter geworden war, dank seines kühlen Kopfes und seiner Abneigung gegenüber waghalsigen Manövern. Ich war also nicht mit einem rücksichtslosen Haufen unterwegs, sondern war hier gut aufgehoben.
Doch kurz zurück zu den Geistlichen des Rennens. Abgesehen davon, dass diese überhaupt mitfahren und dabei den russisch-orthodoxen Glauben in Russland bewerben wollten, hatte das Priester-Team noch eine andere Mission zu erfüllen: Sie hatten Ikonen bei sich, die sie für interessierte Gläubige auf unserer Route ausstellen würden.
Ich fand heraus, dass das Team „Trust“ ebenso eine wichtige Mission zu erfüllen hatte. Es hatte auf seiner Route eine Flagge gefunden, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs auf einem sowjetischen U-Boot im Arktischen Ozean gehisst war. Sie stammte vom stellvertretenden Kommandeur der Nordflotte Russlands, welche in Murmansk stationiert war. Diese Flagge wollte das Team nun bis nach Wladiwostok mitführen, um sie dort dem Direktor eines Museums, wo das eben genannte U-Boot S-56 ausgestellt ist, zu überreichen.
Dazu fällt mir eine kurze Anekdote ein. Vor ungefähr einem Jahr hatte ich die Möglichkeit, zum ersten Mal nach Wladiwostok zu fahren. Dort habe ich zufällig ein Foto von mir vor einem ausgestellten U-Boot machen lassen. Dieses Foto habe ich dann zusammen mit meinem Bericht im Internet veröffentlicht. Einige Tage später schrieb mir mein Bruder, der übrigens in Kalifornien lebt, dass das U-Boot auf dem Foto dasselbe sei, auf dem unser Großvater im Zweiten Weltkrieg gedient hätte, wofür er etwa 20 Medaillen für Heldentaten verliehen bekam. Und heute erfuhr ich also, dass das Team gerade die Flagge dieses U-Bootes mit sich nach Wladiwostok führte. Es schien, als würde mich etwas immer wieder zu dieser Geschichte, vor allem aber nach Wladiwostok, zurückbringen.
Nachdem wir die erste Etappe hinter uns gebracht hatten, fuhren wir in Richtung Süden zu einem kleinen Dorf in Karelien an der Grenze zu Finnland. Wir überquerten gefrorene Seen und fuhren durch endlose Wälder. Wir hielten nur einmal an, um uns vor einem Schild, das den Polarkreis markierte, zu fotografieren.
Unterwegs hörten wir ab und an über unser Funkgerät, wie sich an uns vorbeifahrende Lastwagenfahrer über uns unterhielten. Es schien, als hätten unsere beschrifteten Geländewagen eine Menge Aufmerksamkeit erregt. So wurden wir beispielsweise zu „Verrückten“ erklärt, weil wir freiwillig von Murmansk nach Wladiwostok fuhren und nicht, um damit Geld zu verdienen wie die Berufsfahrer. Gelegentlich merkte der eine oder andere Fahrer, dass wir ihn hören konnten, und wünschte uns daraufhin alles Gute für unsere Reise.
Später erfuhr ich denn auch, dass wir auf unserer Reise ununterbrochen unterwegs sein würden: Der eine Fahrer schläft auf der Rückbank, während der andere hinter dem Lenkrad sitzt. Mir wurde gesagt, ich könne mich glücklich schätzen, wenn ich schon vor dem Baikalsee in Sibirien zu einer Dusche käme. Das bedeutete, dass es noch zwei Wochen dauern könnte, bis ich wieder eine Dusche sah. So langsam wurde mir bewusst, was ich mir hier angetan hatte...
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