Foto: ITAR-TASS
Da hat sich der Premierminister aber verplappert: Bei seiner Philippika gegen die Zypern-Retter und die Abgabe für die Anleger rutschte Dmitri Medwedjew die Redewendung „Geraubtes rauben" heraus. Aber, aber, Herr Regierungschef! Wollen Sie damit etwa andeuten, dass die russischen Gelder, die auf Zyperns Offshore-Konten liegen, nicht rechtmäßig erworben wurden? Na so was! Dabei haben sich doch alle EU-Vertreter so bemüht, dieses delikate Detail vornehm zu umschreiben.
Vielleicht war sich Medwedjew gar nicht bewusst, dass die Formulierung, die er verwendete, eigentlich ein Aufruf ist, fremdes Gut zu enteignen. „Грабь награбленное", „Raub das Geraubte" stammt nämlich aus der Zeit der Oktoberrevolution – nehmt den Reichen, was sie euch durch Ausbeutung genommen haben. Parolen aus dem Klassenkampf gehören eigentlich nicht zum Kernbestandteil des russischen Politjargons. Sie werden höchstens noch ironisch zitiert. Wahrscheinlich war das auch Medwedjews Absicht, und die Doppelbödigkeit seiner kleinen Anspielung ist ihm erst später aufgegangen.
Normalerweise bedienen sich die russischen Eliten eines anderen Jargons: der Gaunersprache. Hier ist der Professorensohn Medwedjew zurückhaltender als sein Chef, der schon mehrmals mit öffentlich geäußerten Wendungen wie „im Klo nass machen" oder „an den Eiern aufhängen" Aufsehen erregte.
Schon seit dem 19. Jahrhundert gibt es in Russland eine sehr ausgeprägte Unterwelt-Kultur, mit eigenen Ritualen, eigener Folklore und eben einer eigenen Sprache. Der logische Schluss, die Oberen Zehntausend in Russland drückten sich so aus, weil sie selber Banditen wären, ist naheliegend. Er greift aber zu kurz. Die Gaunersprache („Блатной жаргон") hat einen langen Weg hinter sich gebracht, bevor sie zum Idiom der Oberschicht wurde.
Einen solchen „Soziolekt", das sogenannte Rotwelsch, kennt auch die deutsche Sprache. Ihre Wurzeln reichen bis ins Mittelalter zurück. Manche Begriffe, wie „ausbaldowern" oder „Schmiere stehen" kennen wir nur noch aus altmodischen Lausbubengeschichten oder von den Panzerknackern, andere wie „Bock haben" oder „Bulle" für Polizist sind feste Bestandteile der Umgangssprache geworden.
Aber zurück nach Russland. In den 1950er Jahren, als viele Gefangene aus den Straflagern zurückkehrten, begann deren Jargon sich in anderen Gesellschaftsschichten auszubreiten. Nicht nur die Unterschichten fanden diese Ausdruckweise attraktiv. Auch Jugendliche und unangepasste Intellektuelle kam auf den Geschmack. In den Jahren der Perestroika gab es dann einen regelrechten Gangster-Boom. Nicht nur, weil echte Kriminelle eine immer wichtigere Rolle in der Öffentlichkeit spielten. Das einst tabuisierte Thema war plötzlich gesellschaftsfähig. Gauner-Balladen zur Gitarren singen, Tätowierungen, Slang – was früher Subkultur war, wurde nun Leitkultur, weit über die Kreise hinaus, die wirklich in kriminelle Machenschaften verwickelt waren.
Nicht jeder, der unehrliche Wege geht, gehört in Russland zu der Elite der „Diebe im Gesetz" oder auch nur zum Kreis der echten Banditen. Wie bei der italienischen Mafia gibt es auch in der russischen Unterwelt ein „innen" und „außen" und eine strenge Hierarchie. So mancher Geschäftsmann arbeitete eng mit der Unterwelt zusammen. Er wurde deshalb jedoch kein „Dieb im Gesetz", auch wenn er noch so viele Gesetzte brach. Aber das „Role Model" der 1990er, das war der Gangster. Geschäftsleute, Musiker, Journalisten und Politiker flirteten mit der Knastkultur und echte schwere Jungs wurden zu respektierten Mitgliedern der Gesellschaft.
Auch kurz nach der Oktoberrevolution gab es eine Annäherung zwischen Berufsverbrechern und der neuen Macht. Der legendäre Bandit Mischka Japontschik („Japanerchen", mit bürgerlichem Namen Moses Winnitzki) kämpfte an der Seite der Roten im Bürgerkrieg gegen die alte Ordnung mit einer aus Kriminellen zusammengestellten Einheit. Die Parole „Raubt das Geraubte" beflügelte auch sie. Nach dem er seine revolutionäre Pflicht erfüllt hatte, wurde Japontschik allerdings von den Sowjets erschossen. Der Kommissar, der ihn zur Strecke brachte, erhielt einen Orden.
Wie es der Zufall will, ein Gangsterboss namens Japontschik (bürgerlich Wjatscheslaw Iwankow) wirkte auch im prosowjetischen Russland. Er wurde im Jahr 1991 auf Bitten zahlreicher Prominenter aus dem Gefängnis entlassen, saß später eine Weile in Amerika ein, kam zurück nach Moskau und erlag 2009 einem Attentat. Sein Begräbnis glich einem Staatsakt. Dass im Trauerzug auch russische Fahnen zu sehen waren, sorgte für einige Aufregung. Abgeordnete der Duma sprachen jedoch von Hysterie. Schließlich wird Russland ja nicht von Gangstern regiert.
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