Foto: Pressebild
Es ist nun endlich Frühling geworden und die Menschen drängen ins Freie. Nach der dunklen kalten Zeit will man sich bewegen, Innliner rollen durch Pfützen und über Schneereste, Radfahrer kämpfen gegen die Autofahrer und ums Überleben, denn sie gelten immer noch, trotz einiger Aktionen und Maßnahmen, nach wie vor als Organspender und Radwege sind die absolute Ausnahme und eine Seltenheit.
Radler tummeln sich in Parks und innerhalb der Höfe und Wohngebiete, aber als ganz normales Fortbewegungsmittel, für das man sich nicht wie Täve Schur aufbrezeln muss, ist es in den Städten noch nicht angekommen. Aufm Dorf radelt alles und vor allem mit allem, was zwei runde Räder hat. Da kommen die erstaunlichsten Modelle zum Vorschein.
Jetzt wird es auch bald wieder die immer beliebter werdenden Nachterkundungen der Stadt Moskau geben, zu Fuß, per Rad oder per Innliner. Für Neugierige und Bewegungsfreudige unbedingt empfehlenswert. Und für Kontaktfreudige auch. Da lernt man die unglaublichsten Typen kennen, wenn man mit Rucksack, Taschenlampe und Thermoskanne bewaffnet Moskauer Geheimnissen auf die Spur kommt.
Endlich kann sich auch der permanente Flaniertrieb der Russen wieder voll austoben. Was wir schon zu Sowjetzeiten mit Staunen beobachteten, hält sich erstaunlich! Die Menschen zogen nach der Arbeit allein oder in Grüppchen durch ihre Städte, plauderten und gossen sich auch gepflegt einen kleinen hinter die Binde. Das passierte alles im Freien, weil es viel zu wenige Gaststätten, Bars und Cafes gab, wo man hätte einen Feierabendschluck zu sich nehmen können.
In großen Städten flaniert man heutzutage weniger, denn Zeit ist knapp und die Wege sind lang, man trifft sich an Metrostationen, auf Parkbänken, an Mauervorsprüngen, an Fußgängerunterführungen – kurz überall, wo man etwas abstellen kann. Da wird dann ein bisschen geschwatzt und etwas getrunken, ohne Exzesse. Und in die Abendsonne geblinzelt. Es gibt zwar schon zahlreiche gastronomische Einrichtungen, aber das Gewohnte gefällt doch besser und ist erschwinglicher.
Aber der Wunsch, in eine Kneipe oder Bar mal hineinzugehen, ist vor allem für die ältere Generation permanent vorhanden. Wenn die Preise nicht wären. Es könnte doch nichts dagegen einzuwenden sein, wenn man sein Fläschchen mitbringt und einfach ein bisschen dasitzt und das Flair genießt, denkt sich Otto Normalverbraucher im Stillen.
Das bringt natürlich die Kneipiers in Schwierigkeiten und auf die Palme. Deshalb hingen, das wird jetzt mit dem aufgeklärten Kneipenpublikum immer weniger, überall Warnungen, dass das Austrinken mitgebrachter Spirituosen strengstens untersagt sei.
Was die Leute nicht daran hinderte, es trotzdem zu versuchen. Sie bestellten dann eine Runde Wodka zum Beispiel, mit ein bisschen dazu passendem Zubiss wie Salzgurken, Salzhering, Sauerkraut und schwarzes Brot, tranken die Gläser leer und gossen dann heimlich aus dem eigenen Vorrat nach. Das Bedienungspersonal war dann schon sauer, wenn sie nach nur einer bestellten Runde eine schwer angesäuselte Mannschaft abkassierten.
Auch in den sowjetischen Bierkneipen, wo es meist nur Stehtische gab, wurde der einheimische Gerstensaft mit Wodka aufgebessert. Die Flasche ruhte in der Aktentasche unterm Arm und kam bei jeder neuen Runde Bier zum Einsatz. In den Bierstuben gab es als multifunktionalen Zubiss Wobla, den berühmten gesalzenen Trockenfisch, der den Bierdurst anregt, schön stinkt und ebenfalls nicht totzukriegen ist. Meinem Vater wurde so ein Prachtstück in einer Bierbar in Leningrad geschenkt, als er mich während des Teilstudiums besuchen kam. Er wusste nichts damit anzufangen und steckte das flache Ding in die Innentasche seines Jacketts und vergaß dann den schönen Trockenfisch. Meine Mutter entsorgte zu Hause dann Fisch nebst Jackett. Der Geruch war nicht rauszukriegen.
Haut der ins Bier gegossenen Wodka nicht sofort um, könnte sich mancher Uneingeweihte heimlich fragen. Aber keinesfalls, hier heißt es „Bier ohne Wodka ist rausgeschmissenes Geld!"
Neben dem Freiluftbiertrinken im Frühling, denn wirklich nur die Härtesten kippen kaltes Bier bei Schnee, Frost und Wind in sich hinein, gibt es noch eine andere große Frühlingsleidenschaft: das Anstreichen. Armeen von Gastarbeitern aus den asiatischen Republiken (ist schon paradox, dass wir die neofeudalen Staatsgebilde forsch Republiken nennen) werden mit Pinseln und schreienden Farben bewaffnet, um Zäune, Haustüren, Sandkisten, Betontreppen, Wäscheleinenhalter, Teppichstangen, Papierkörbe, Mülltonnen, kurzum alles, was sich nicht wehren kann, anzustreichen.
Vermutlich stammt die Farbe aus überalterten Staatsreserven, denn sie stinkt im wahrsten Sinne zum Himmel. Ist eben noch Qualität, der Geruch hält sich lange und steht in den Innenhöfen wie eine Wand.
Gegen alle übrigen Großstadtgerüche kommt der Frühling nicht so recht an. So blühen halt alle Pflanzen und Büsche ergeben und stumm vor sich hin.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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