Foto: ITAR-TASS
„Stolowaja" nennt man hier schon sehr lange einen Schnellimbiss, ein Buffet oder einfach eine Kantine, um es dem Nichtkenner der Szene zu erläutern. Aber alle Beschreibungen westeuropäischer Art treffen hier nicht zu. Inzwischen sind „Stolowajas" im Moskauer Stadtbild eine aussterbende Spezies, nur in den Regionen und Provinzstädtchen gibt es sie noch. Ein guter Bekannter nannte solche gastronomische Wundertempel einfach „Toschnilowka", was soviel wie Kotzbude heißt. In diese Kategorie der Schnellimbisse gehören auch noch die „Butterbrodnaja" und die „Pelmennaja", auch die Chinkalnaja und die Tscheburetschnaja kann man da mit zu rechnen.
Nach einigen Anläufen, bürokratische Hürden zu überwinden, bemerkte ich ein ziehendes Gefühl im Magen und diagnostizierte es als Hunger. Ich hatte eigentlich „nur" ein Beglaubigungsschreiben abholen wollen, das meine Zollerklärung bestätigt, so dass mein Auto noch ein Jahr ohne Zollgebühren und Beanstandung in Russland fahren darf.
Mit „schnell erledigen" hatte ich mich geirrt, denn ich war an einen wahren Schnelldenker geraten. Bereits nach einer knappen Stunde hatte ich ihm mein recht einfaches Anliegen erklärt. Leider sah er sich außerstande, sofort ein solches Papierchen herauszugeben, wollte mich aber in den nächsten Tagen anrufen.
Enttäuscht, erschöpft und hungrig steuerte ich die gleich um die Ecke liegende Stolowaja an. Der höhlenartige Eingang und der Geruch, eher auf eine Zoohandlung als auf ein Buffet hinweisend, konnten mich nicht abschrecken. Man muss ja alles mal mitgemacht haben. Ich passierte mehrere mürrisch dreinblickende Frauen in dicken grauen Armeesocken und ehemals weißen Schürzen die es schafften, mit einem Schluck Wasser und einem unsäglichen Fetzen auf allen Tischen den Dreck gleichmäßig zu verteilen.
Nach eingehendem Studium der per Hand geschriebenen Speisekarte entschied ich mich für Hühnerbeine und Tomatensalat, ohne jedoch vorher meine Barschaft in Rubeln überprüft zu haben. Eine Portion des gewünschten Gerichts konnte ich am Tresen ausmachen, das war aber ein Muster. Die anderen Portionen standen unerreichbar in der Tiefe der Küche, umringt von mehreren vollschlanken Frauen.
Ich bestellte also meine Portion Hühnerbeine, löste damit eine lautstarke Diskussion unter den Köchinnen aus, wer für Herausgabe des Essens zuständig sei. Endlich wurde mit durchdringender Stimme gerufen: „Stepanowna, komm her und rück ein Hühnerbein raus. Oder darf ich?" Sie durfte.
Ich schnappte meinen Teller, die drei Tomatenscheiben mit einem Klecks saurer Sahne nicht unbedingt als Tomatensalat erkennend und steuerte die Kasse an. Und schon nachdem die Kassiererin aufgegessen und ihre Zähne von Essenresten gesäubert hatte, durfte ich bezahlen. Ich zückte meine Geldbörse und erstarrte, denn ich hatte nicht genügend Rubel dabei und die nächste Wechselstube war zu weit entfernt. Die Frage, ob man mit Karte zahlen könne, wurde einhellig bewiehert.
Beschämt stellte ich die Hühnerbeine wieder auf den Tresen, was bei dem Küchengeschwader erneutes Gelächter hervorrief über die doofen Ausländer, die nicht einmal rechnen können. Fleckiges Aluminiumbesteck und Löffel mit einem Loch in der Mitte! ( das macht sich gut beim Suppeessen) mit dem ich mein Salätchen verzehren wollte, entnahm ich unter den Augen der Oberaufseherin, die jeden Gast als potentiellen Feind einstufte und mit Argusaugen über eine Kiste mit Esswerkzeugen wachte.
Wie alles in der Welt hatte auch dieser Zwischenfall seine positive Seite. Hatten sich beim Eintritt die Augen der anwesenden Penner in der Hoffnung auf einen finanziellen Zuschuss für die nächste Pulle auf mich gerichtet, so wendeten sie nun angewidert ihre Gesichter ab.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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