Zwei Männer gehen die Kammerherren Gasse entlang. Foto: Benjamin Hutter
Wenn es nach dem langen und dunklen Winter endlich warm wird, treibt es alle mit Macht ins Freie. Das ist natürlich besonders in den nördlichen Regionen der Fall, wo es im Winter nie so richtig hell wird und Sonnenstrahlen fast ein halbes Jahr ausbleiben. In den Städten ganz oben im Norden, zum Beispiel in Archangelsk an der Nördlichen Dwina, steht die Sonne die ganze Nacht über hoch am Himmel. Die Einwohner ziehen wirklich mit Kind und Kegel durch die Stadt, um Sonne zu tanken. Diese Spaziergänge nenne ich Orts spezifische Antidepressiva.
Aber auch Moskau ist kein südlicher Kurort und so setzt mit Sonnenschein
und Wärme eine wahre Prozession der Moskauer ein. Da zeigen die Hauptstädter mal, was sie so drauf haben in Sachen Bekleidungskunst.
Also flugs ein Plätzchen in einem Straßencafe gesucht und dem Defile zugeschaut! Das ist interessanter als Fernsehen. Saß ich sonst öfter auf dem Alten Arbat, so zieht es mich jetzt mehr in die Kammerherren Gasse (russisch klingt das Kamergerski Pereulok).
Cafes gibt's in diesem Gässchen wie Sand am Meer, für jeden Geldbeutel und jeden Geschmack. Und der Service ist ebenfalls sehr unterschiedlich. Als ich in einem Cafe mit meinen Gästen eine Viertelstunde vom Personal ignoriert wurde, rutschten wir einfach ein Cafe weiter, wo man uns freundlich und umgehend bediente.
Ob Irokesen-Punk, Boutique-Mode oder zeitloser Schlabberlook, es ist alles vertreten. Die schlanken jungen Damen mit Beinen bis zum Hals fallen natürlich besonders auf. Auf ihren Highheels schweben sie regelrecht übers Pflaster. Einige von ihnen haben kleinere Herren älteren Baujahrs im Schlepptau. Die jungen Frauen lassen sich ein bisschen aushalten und die reiferen Männer fühlen sich mit einer solchen Perle am Arm geschmückt und verjüngt. Und alle sind zufrieden.
Die Omis gehen auch gern flanieren, setzen sich hin und wieder in ein Straßencafe, beginnen ein Gespräch und fühlen sich dann nicht mehr einsam. Ihre Kleidung ist weniger anspruchsvoll, bei der geringen Rente auch kein Wunder, aber ein verwegenes Hütchen und geschminkte Lippen sind immer drin. Das gefällt mir immer sehr, wenn zu Veranstaltungen im deutsch-russischen Haus oder im Haus des Kinos, wo kein Eintritt gezahlt werden muss, die ältere Generation ihre charmanten Kleider von damals, nebst Kopfbedeckung natürlich, ausführt.
Die Männer kommen nicht sehr einfallsreich gekleidet daher, das ist ihrer eigenen Phantasielosigkeit geschuldet und dem wachsamen Auge der Ehefrau, die bei dem akuten Männermangel im Lande kein Risiko eingehen will und den Ehegespons nicht unnötig herausputzt.
Der Kaukasus kommt ungebrochen in schwarzen Hosen und sehr spitzen Schuhen zum Schaulaufen, was den männlichen Teil angeht. Die Frauen gehen entweder traditionell gekleidet und tragen unbedingt ein Kopftuch, oder sie ignorieren die Vorgaben und mischen sich unerkannt unters Volk.
Die jungen Leute zeigen entweder sehr viel Phantasie oder setzen auf die traditionelle Jeans, die ja wirklich überall hin passt. Sie brettern oft mit ihren Innlinern durch die Fußgänger und haben einen Heidenspaß, wenn diese erschrocken zur Seite springen. Ihre neuen und teuren Fahrräder schieben sie, damit wir sie auch eingehend betrachten können. Ob allein oder in einer Gruppe, sie kommunizieren immer, denn fast jeder hat sein Handy am Ohr oder schreit in das kleine am Kinn baumelnde Mikrofon.
Etwas schwerer tun sich die Frauen in der Lebensmitte. Einige verstecken gekonnt die Pölsterchen unter legeren Blusen und Tuniken, andere wieder zeigen alles, was sie haben. Sie übertrumpfen dabei noch die hemmungslos bunt gekleideten Jugendlichen. Bei den Haarfarben langen sie kräftig zu, manchmal allerdings in den falschen Farbtopf. Extremes Wasserstoffblond ist immer in, auch bei von Natur aus dunkelhaarigen Frauen, und alle Rottöne, die man sich nur denken kann.
Die Hunde, die hier nichts zu lachen haben, denn sie dürfen so gut wie nirgendwohin gehen mit ihren Herrchen und Frauchen, sondern müssen den lieben langen Tag einsam zu Hause warten, werden zum Flanieren mitgenommen. Da stolzieren riesige Doggen neben ihren Besitzern einher, während die in Mode gekommenen Fußhupen, die kleinen Wollknäule, auf den Armen ihrer Frauchen furchtlos die Welt betrachten.
Die Obdachlosen bekommen von den gut gelaunten Spaziergängern ihr Almosen oder sie setzen sich an die Tische und verzehren die Reste, bis sie verjagt werden.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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