Carla und die Dementoren

Harry-Potter-Leser wissen: Dementoren sind grausliche Monster, die von den Bösen und Mächtigen der Zauberwelt eingesetzt werden. Sie sollen den Widerstand derer brechen, die sich nicht fügen wollen. Dementoren rauben ihren Opfern die geistigen Kräfte und treiben sie in einen Zustand seelenloser Apathie. Was die meisten nicht wissen: Es gibt sie auch außerhalb der magischen Welt, und sie sind höchst aktiv.

Derzeit sind die Dementoren Carla del Ponte auf der Spur. Die Schweizer Richterin hat in ihrem Leben schon mehrfach Bekanntschaft mit dieser Spezies gemacht. In den 1980er Jahren legte sie sich mit der italienischen Mafia an, sie entging dabei angeblich nur knapp einem Attentat. In den 1990ern ermittelte sie gegen die russische Mafia, genauer gegen Boris Jelzin und seiner Familie, was im Grunde dasselbe ist. 1999 wurde sie Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien. Kritiker warfen ihr vor, dass sie in diesen Positionen mehr angekündigt als erledigt habe und dass Selbstdarstellung stets ihre oberste Richtschnur sei. Del Ponte wiederum berief und beruft sich darauf, dass sie bei Ihrer Arbeit stets von mächtigen Kreisen behindert worden sei.

So richtig in Konflikt mit den Dementoren kam del Ponte aber erst, als sie in ihrer 2008 erschienenen Autobiographie behauptete, die „Kosovo-Befreiungsarmee" UÇK habe mit den Organen getöteter Serben gehandelt. Das gab eine Dementi-Kakophonie: Unverantwortlich! Wie kann man solche schlimmen Sachen behaupten, wenn man überhaupt keine Beweise dafür hat! So was macht man doch nicht!

Macht man natürlich schon. Das Aufstellen unglaublicher und unbewiesener Behauptungen über Gräueltaten gehört heute zum Krieg wie das Schießen. Die Frage ist weniger, ob die Geschichte wahr ist, sondern wem sie nützt. (Testfragen: Welcher Krieg wurde begonnen, weil der Bösewicht angeblich über Massenvernichtungswaffen verfügte? Wo wurde mit Köpfen Fußball gespielt?)

Jetzt ist ein neuer Bösewicht an der Reihe und wieder geht es um den Besitz verbotener Waffen. Sollte der Syrer Assad Chemiewaffen gegen sein Volk einsetzen, dann ist die rote Linie überschritten, hatte Barack Obama einst unvorsichtig versprochen. Und dann kommt diese del Ponte und behauptet, die Aufständischen würden das Zeug verwenden. Da müssen Uno und Weißes Haus natürlich gleich die Dementoren aussenden: Stimmt nicht, wenn einer hier seinen Chemiebaukasten zweckentfremdet, dann Assad.

Vom Kolumnistenschreibtisch aus ist natürlich schwer nachzuprüfen, was hier stimmt. Kann ja sein, dass Madam del Ponte sich mal wieder

interessant machen will. Kann aber auch sein, dass sie Recht hat. Was mich misstrauisch macht, ist die Eile und das Pathos, mit der die Dementoren ihre Warnung zurückweisen. Da drängt sich doch der Verdacht auf, hier stehe die Wahrheit von vornherein fest und störende Informationen würden weggeküsst. Carla del Ponte, kennt man ja.

Menschen, die gegen den Mainstream schwimmen, haben oft einen schwierigen Charakter und ein übergroßes Ego. Wikileaks-Gründer Julian Assange muss ein echter Kotzbrocken sein. Vielleicht hat er auch Frauen vergewaltigt. Bedeutet das, dass man alle Enthüllung dieser Plattform getrost vergessen kann? Fall dementiert, Wikileaks kaputt?

Und wer warnt sonst noch vor überstürzten Aktionen in Syrien? Natürlich, Russland. Aber in diesem Falle können die Dementoren in ihren Verstecken bleiben. Den Russen glaubt man noch weniger als Carla del Ponte.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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