Du bisst, was und wie Du isst. Diese zumindest unter erfahrenen Frauen bekannte Weisheit lässt auf meinen endlosen Dienstreisen keine Langeweile aufkommen. Ob im Flieger oder im Hotel beim Frühstück - ich bin ständig vom mampfend sich outenden Männern umgeben.
Der deutsche feministisch gezähmte und glatt gebügelte Mann ist dabei für mich nicht recht interessant, der russische schon eher.
Die dienstreisenden Herren steigen im Hotel mit ihrer Sekretärin oder Gespielin, oftmals ist sie alles in einem, ab. Da versuchen sie sich zu tarnen und den smarten Frühstücksboy heraus zu kehren. Das gelingt vielleicht noch, wenn die unsäglichen nummerierten Frühstücksvarianten serviert werden, ein harte Prüfung für jeden, der einen guten kulinarischen Start in den Tag bevorzugt. Aber wenn sie an ein Frühstücksbuffet geraten, bricht sich die Natur Bahn.
Bevor der nächtens hart arbeitende Chef und Liebhaber in Personalunion in den Ring, sprich ans Frühstücksbuffet steigt, lässt er Saft und Mineralwasser in großen Mengen in sich hineinlaufen. Wenn die Geliebte total aufgedonnert angestöckelt kommt, ist er bereits wieder soweit hergestellt, dass er mit ihr frühstücken kann.
Wer in seinem Leben mal das Glück hatte, mit russischen Touristen in einem Hotel abzusteigen, der weiß, wie viel Essen auf einen Teller passt. Dieser Volle-Teller-Instinkt lässt sich beim Frühstücken nicht verdrängen. Also wird alles aufgeladen, was satt macht. Spaghetti und Würstchen ist der Klassiker, dazu noch Rührei, Spiegelei, Wurst, Käse, Fisch usw. Das wird alles hintereinander in halb liegender Pose vom Teller geatmet. Die rechte Hand umkrampft die Gabel, die linke benutzt eine dicke Scheibe Weißbrot als Schaufel oder Schieber, um das Essen auf die Gabel zu kriegen. Vollmundig wird hin und wieder davon abgebissen. Dann kommt das Süße. Ohne ein süßes Dessert ist die Mahlzeit nicht vollständig. Dazu trinkt der Gute dann Tee oder Kaffee.
Die Gertenschlanke hat ihr kleines Frühstückchen auch verzehrt, was immer wieder sehenswert ist. Um das starke Make-up nicht zu verderben, wird jeder Bissen gleich bis an die Rachenmandeln befördert. Somit bleibt der Lippenstift wo er ist, nämlich auf den Lippen. Die Gabelhaltung outet nahezu jede Russin weltweit. Mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger hält sie das gute Stück fest, die anderen beiden Finger aristokratisch gespreizt. Nach demonstrierter Frühstückskultur entschwebt sie mit ihrem satten und zufriedenen Begleiter. Egal, wie er isst, egal, wie er aussieht, er ist erstens ein Mann und zweitens der Chef, also wichtig. Das wiederum, so glaubt sie, macht auch sie ein klein wenig wichtiger in dieser Welt.
Die Serviceingenieure, Wartungsfachleute, Monteure, Vertreter usw. frühstücken auch sehr ausgiebig, mampfen gnadenlos, wie sie es von zu Hause gewohnt sind, wo man den Appetit mit Zuneigung oder so verwechselt. Um ihre Tagesgelder nicht mit Essen verschwenden zu müssen, vielleicht haben ja fremde Städte abends noch geheimnisvolles zu bieten, lassen sie vom Frühstücksbuffet einiges mitgehen. Das ist natürlich nicht gestattet und wenn sie auffliegen, gibt es immer einen Mordsskandal mit kostenlosem Nachhilfeunterricht in russischen angesagten Schimpfworten.
Individualreisende, die es langsam in Russland auch gibt, wollen bewundert werden. Soll jeder sehen, dass sie ihr Hotelzimmer aus eigener Tasche bezahlen und nicht irgendeine Firma. Sie zelebrieren das Frühstück, gehen sehr oft zum Buffet, wählen sorgfältig aus und genießen es, das schon
Bezahlte zu verzehren. Wenn es sich um Ehepaare handelt, spielt die Ehefrau fast immer die „treusorgende-Mutti-Karte" aus und schleppt für den Guten die Leckerbissen vom Buffet heran. Er soll sich schön ausruhen, damit der Bauch in Ruhe wachsen kann. Das mindert seinen Marktwert! Bei dem Frauenüberschuss ein ernst zu nehmender Faktor. Und schließlich will sie der Welt beweisen, dass sie einfach die Beste ist!
Jugendliche sah ich immer nur atemberaubend schnell frühstücken. In Ermangelung von Cola schlürfen sie schnell einen Saft, löffeln Müsli und Joghurt und sind auch schon gleich wieder weg. Essen muss eben schnell gehen und rangiert auf ihrer Genießerskala ganz weit hinten.
Das, was ich über Jahre in Hotels bei Tische beobachten konnte, wiederholt sich bei jeder Familienfeier in meinem großen Bekanntenkreis. Es sind offenbar genetisch fixierte Rituale, je nach Landstrich gering modifiziert.
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