Die faustische Ukraine

Der Name „Ukraine" lässt sich frei mit „Grenzland" übersetzen. Und so sprechen manche Kommentatoren von einem Ringen zwischen Himmel und Hölle um die arme ukrainische Seele. Welche Position die EU und Russland dabei jeweils darstellen, hängt natürlich vom Standpunkt des Beobachters ab.

Wie lautete noch einmal die offizielle Version über den Kampf der politischen Lager in der Ukraine? Den demokratisch gesinnten, prowestlichen Politikern Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko steht der von Moskau gesteuerte Viktor Janukowitsch gegenüber – ein Ex-Knacki, der daran arbeitet, die Demokratie in seinem Land zu ersticken. Diese im Westen verbreitete Lesart ist natürlich heute etwas veraltet. Das scheint aber niemandem aufzufallen.

Immerhin bemüht sich die russische Marionette Janukowitsch um die Annäherung an die EU und will keine Zollunion mit Russland. In Moskau sorgt das für erhebliche Verstimmung. Die Freiheitskämpferin Timoschenko hingegen schmachtet im Gefängnis, weil ihre Gas-Deals mit Russland aus Sicht der derzeitigen Regierung und der ukrainischen Gerichte gut für Moskau und Frau Timoschenko, aber nachteilig für das eigene Land waren.

Die Meisterin der Selbstinszenierung spielt aber immer noch eine Rolle bei den Verhandlungen über die Assoziation, auch wenn sie dabei nicht mit am Tisch sitzt. Ihre Freilassung wird von den EU-Vertretern als Voraussetzung für eine Unterzeichnung des Abkommens gehandelt. Janukowitsch scheint sich darauf einzulassen, so sehr will er nach Europa. Timoschenko ist also ist gerichtet und so gut wie gerettet. Dabei geht es eigentlich um viel mehr als nur um die Zukunft der ukrainischen Medien-Unschuld.

Der Name „Ukraine" lässt sich frei mit „Grenzland" übersetzen. Und so sprechen manche Kommentatoren von einem Ringen zwischen Himmel und Hölle um die arme ukrainische Seele – oder sind es deren zwei? – am Grenzverlauf zwischen „Gut" und „Böse". Welche Position die EU und Russland dabei jeweils darstellen, hängt natürlich vom Standpunkt des Beobachters ab. Janukowitsch wäre dann also die Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft, oder umgekehrt. Andere sprechen von einem Kampf zwischen den Reichen des lateinischen Westens und des griechischen Ostens um ein beachtliches Territorium, das im Laufe der Geschichte mal unter die Oberherrschaft der einen, mal der anderen Seite kam. Auch heute liegt das Grenzland zwischen den beiden Einflusssphären und konnte sich bislang nicht so recht entscheiden, wohin es gehört.

Muss es denn überhaupt wählen? „Ja", sagen beide Seiten, und legen überzeugend dar, dass eine festere Bindung an das eigene Lager Wohlstand, ein Abgleiten in das andere aber Armut und Abhängigkeit bedeute. Die heutige Ukraine hat nur wenig mit ihren westlichen Nachbarn, aber viel mit Russland gemein. Das beginnt bei Sprache und Kultur und endet bei den Krankheiten, an denen viele postsowjetische Staaten leiden: Korruption und ein verkümmertes politisches System. In der Ukraine finden nur deshalb regelmäßig politische Wechsel statt, weil sich dort mehrere gleich starke Oligarchencliquen um die Macht streiten. Mal gewinnt die eine die Oberhand, mal die andere. Dabei benutzen die einen Politiker, die sich als „pro-westlich" positionieren, die anderen geben sich „pro-russisch". In Wirklichkeit ist das aber alles nur Folklore für das Wahlvolk und für ausländische Sponsoren. So echt wie Julia Timoschenkos Zopf.

Tatsächlich ist das Land gespalten in einen Westteil, der sich auch kulturell als Teil des Westens sieht, und einen Ostteil, der an Russland hängt. Manche Territorien, wie die Krim, wurden erst nach dem zweiten Weltkrieg der Ukraine zugeschlagen und waren jahrhundertelang russisch. Die Politik spielt mit diesen Gegensätzen. Zu den Wählern des westlichen Blocks gehören auch ukrainische Nationalisten, deren Ideologie stark in die braune Richtung abdriftet, zu den Anhängern der östlichen Richtung Sowjetnostalgiker, die immer noch nicht akzeptieren können, dass sie ins Ausland reisen müssen, wenn Sie ihre Verwandten in Russland besuchen wollen.

Beide politischen Fraktionen haben jedoch bewiesen, dass sie die Gretchenfrage nach der politischen Ausrichtung eher ausweichend beantworten, wenn sie einmal an die Macht gekommen sind. Weder wollten

die Westler es sich mit Russland verderben, noch die Russophilen mit dem Westen. Auch wenn die ukrainischen Politiker nicht von persönlichen Interessen getrieben wären, könnten sie kaum anders handeln. Für ein Land zwischen den großen Kulturkreisen wäre es dumm, seine Seele ganz der einen oder der anderen Richtung zu verschreiben. Wer sich alle Optionen offen lässt, hat in der Politik meist bessere Chancen. Das gilt nicht nur für die Außenbeziehungen. Auch nach innen wäre eine Marginalisierung der einen oder anderen Seite fatal. Dann könnte passieren, wovor Skeptiker warnen: Das Land zerbricht, der industrialisierte Osten schließt sich Russland an, der strukturschwache Westen wird Sorgenkind der EU.

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