Der Chemiker, der komponierte: Alexander Borodin

Bild: Natalja Michajlenko

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Die innere Zerrissenheit des Wissenschaftlers und Komponisten Borodin sorgte für so manche kuriose Situation in seinem Leben. Letztendlich ist er aber wegen seines musikalischen Schaffens unvergessen.

Der Komponist Alexander Borodin (1833-1887) schrieb mit „Fürst Igor" eine der schönsten russischen Opern. Weniger bekannt ist, dass er zudem ein berühmter Wissenschaftler und Chemiker war. Sein gesamtes Leben vermochte er es, Musik und Wissenschaft unter einen Hut zu bringen. Übrigens waren viele russische Komponisten nicht ausschließlich Berufskomponisten – Mussorgski war Offizier, Rimskij-Korsakow war Matrose. Diese nahezu an eine Gesetzmäßigkeit grenzende Erscheinung ist wahrscheinlich eine Besonderheit der russischen Musik.

Alexander Borodin war ausgebildeter Mediziner; er schloss die Medizinische Akademie in Sankt Petersburg ab. Sein Mentor war der große russische Chemiker Nikolaj Sinin, der auch seinen Gartennachbarn Alfred Nobel zur Erfindung des Dynamits anregte. Nach dem Studium war Borodin als Arzt tätig und schloss Freundschaft mit dem späteren „Vater" des Periodensystems der Elemente, Dmitrij Mendelejew, und anderen Koryphäen der Wissenschaft.

Den Naturwissenschaftler Nikolaj Sinin störte es, dass Borodin so viel Zeit der Musik widmete. „Sascha, vergessen Sie doch endlich Ihre Romanzen und beschäftigen Sie sich mit ernsthaften Dingen!", forderte er von seinem Schüler. Was dieser auch tat: Alexander Borodin widmete sich zeit seines Lebens intensiv der wissenschaftlichen Forschung. Ihm sind mehrere sehr wichtige Entdeckungen zu verdanken; es existiert sogar eine nach ihm benannte chemische Reaktion, die sogenannte „Hunsdiecker-Borodin-Reaktion".

Doch das Schicksal meinte es nicht gut mit ihm: Immer, wenn er begann, sich mit einem Problem zu beschäftigen, musste er erkennen, dass westliche Wissenschaftler auf diesem Gebiet bereits einen Schritt weiter waren. Und er ließ ihnen den Vortritt. Als Borodin gefragt wurde, warum er gegenüber den Europäern immer klein beigebe, seufzte er und klagte: „Mein Labor hält sich kaum über Wasser und ich habe keinen einzigen Assistenten. Die Europäer dagegen verfügen über ein riesiges Budget und haben jeder an die zwanzig Assistenten."

 

Schumann als Erweckungserlebnis

Ungeachtet seiner Begeisterung für Musik war diese für Borodin lange Zeit nur eine Art Hobby. Das änderte sich, als er Modest Mussorgski kennenlernte. Zu dieser Zeit arbeitete Borodin in einem Hospital, in dem

Mussorgski behandelt wurde. Sie lernten einander kennen, unterhielten sich, gingen zusammen Bier trinken. Borodin sagte: „Musik ist eine tolle Sache, aber sollte man wegen ihr sein Leben ruinieren?" Mussorgski stimmte zu und fragte Borodin, ob er den Komponisten Schumann kenne. Borodin verneinte, woraufhin Mussorgski ihm etwas von Schumann vorspielte. Da erkannte Alexander Borodin, dass er ohne Musik nicht mehr sein könne und sein ganzes Leben werde ändern müssen.

Mussorgski machte ihn daraufhin mit der Gruppe „Das mächtige Häuflein" bekannt, einer Vereinigung der besten Komponisten jener Zeit: Mili Balakirjew, Nikolai Rimskij-Korsakow und César Cui. Unter deren Einfluss begann er, sich intensiver mit der russischen Kultur zu beschäftigen. Bis dahin hatte Borodin sich ausschließlich an westlicher Musik orientiert, aber nach intensiven Gesprächen mit seinen neuen Freunden wandelte er sich zum eingefleischten Slawophilen.

Höhepunkt dieser Slawophilie war seine erste Sinfonie. Er arbeitete sehr lange an ihr, ganze fünf Jahre. Seiner ersten folgte die zweite Sinfonie. Mussorgski schlug vor, sie „slawisch-heroische Sinfonie" zu nennen. Später wurde die Bezeichnung konkretisiert: Es war nicht nur ein slawisches, sondern ein russisches Werk. Und anstatt des griechischen Begriffs „heroisch" wählte man das Wort „bogatyrskaja", abgeleitet von der ur-russischen Bezeichnung für einen Recken oder Helden. So ist dieser Name bis heute erhalten geblieben – im Russischen heißt sie „Bogatyrskaja" und im Deutschen „Heldensinfonie".

 

Hin- und Hergerissen zwischen zwei Welten

Er widmete sich höchst unregelmäßig seiner Leidenschaft, denn immer wieder wurde er von etwas anderem abgelenkt. Doch selbst während er Vorlesungen hielt und wissenschaftliche Experimente durchführte, klang in seinem Kopf die Musik. Andererseits kam es auch vor, dass er sich mit Rimskij-Korsakow unterhielt, vollkommen unvermittelt aufsprang und in sein Labor rannte.

Er war hin- und hergerissen. Seine Gedanken waren ständig an einer anderen Stelle. Aber auch so war er ein recht zerstreuter Mensch. War er

sehr in Gedanken vertieft, konnte er seiner Frau durchaus die Frage stellen: „Katja, sag mir, wie heißt du doch gleich noch einmal?" Von seiner Verwirrtheit erzählt eine Anekdote: Er hatte Gäste zu sich nach Hause eingeladen; es wurde sehr viel musiziert, gegessen und erzählt. Plötzlich stand Borodin auf und begann sich anzuziehen. Man fragte ihn, wohin er wolle. Er entgegnete verwundert: „Was soll das heißen, wohin? Nach Hause natürlich! Es ist schon spät und ich muss morgen eine Vorlesung halten." Erst in diesem Moment erkannte er, dass er ja bei sich selbst zu Hause war.

Nach den beiden Sinfonien begann Borodin, eine Oper zu komponieren – die Oper „Fürst Igor", die auf dem bedeutendsten russischen Epos, dem „Igorlied", aus dem Mittelalter basierte. Die Arbeit an diesem Werk zog sich ganze 18 Jahre hin. Borodin nahm sich sehr viel Zeit für das Studium der Quellen, Chroniken und historischen Forschungsergebnisse. Aber immer wieder musste er sich anderen Sachen widmen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen: Er hielt Vorlesungen und übersetzte belanglose Bücher. „Wie gerne würde ich doch frei und unabhängig leben und den Staatsdienst quittieren wollen!", träumte er. Aber dieser Traum ließ sich nicht verwirklichen, denn über eine andere Einnahmequelle verfügte er nicht.

Sein Tod kam völlig unerwartet. Es war gerade Masleniza, die Butterwoche, mit der die Fastenzeit in Russland eingeläutet wird. Borodin veranstaltete bei sich zu Hause ein Kostümfest und hatte viele Gäste eingeladen. Er selbst kleidete sich in einer russischen Volkstracht und zog die dazugehörigen Lapti, traditionelle Bastschuhe, an. Alle vergnügten sich, tanzten und sangen. Borodin tanzte und sang nicht weniger als die anderen. Plötzlich stockte er mitten im Satz und stürzte der Länge nach zu Boden. Alle dachten, dass er nur einen Spaß machte, und die Musik spielte weiter, die Gäste tanzten – keiner hatte bemerkt, dass Borodin einen

Herzanfall erlitten hatte, von dem er sich nicht wieder erholen sollte.

Am Vorabend noch hatte er an der Partitur zu seiner dritten Sinfonie gearbeitet und Ergänzungen an den Chor-Passagen seines „Fürsten Igor" vorgenommen. Als Rimskij-Korsakow den Nachlass sichtete, fand er zwischen den Noten einen Vortrag über Hygiene und irgendwelche chemische Formeln. Daneben hatte er eine Stimmgabel gezeichnet. Seine innere Zerrissenheit verließ Borodin bis zu seiner letzten Lebensminute nicht: ein Vortrag über Hygiene und eine Stimmgabel! Aber letzten Endes sollte die Stimmgabel siegen. Wenn die „Polowetzer Tänze" aus „Fürst Igor" erklingen, mag man so gar nicht an die Wissenschaft denken. Und überhaupt vergisst man alles und spürt, dass es sich um großartige Musik handelt.

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