Michail Chodorkowski wurde am 20. Dezember aus der Haft entlassen. Foto: Reuters
Früh am Morgen bekam ich die Mitteilung, dass mein neues Jahres- und Arbeitsvisum genehmigt wurde! Es war der letzte mögliche Moment vor meinem lange geplantem Abflug nach Deutschland. Nicht sehr komisch, weil ich die ganze Prozedur rechtzeitig, also drei Monate vorher, begonnen hatte. Aber da kommen ja hier immer unvorhergesehene Momente , die mit dem Anspruch der ausschlaggebenden Beamten verbunden sind, dazwischen. Und so war es auch dieses Mal. Man bedenke dabei, dass ich schon viele Jahre Arbeitsvisa beantrage. Da sollte man schon annehmen, dass alles glatt geht. Weit gefehlt.
Jedes Jahr muss ich eine Apostille von meinem Diplom, welches ich in den fernen Siebzigern abgelegt hatte, neu beibringen. Dazu kommt noch der
jährliche obligatorische Gesundheitstest, wo ich nachweisen muss, dass ich weder Lepra, noch Syphilis, Tuberkulose oder etwa sogar Aids habe. Auch diese Hürde hatte ich genommen. Glücklich, dass diese schrecklichen Krankheiten an mir wieder einmal vorbei gegangen sind, dachte ich leichtsinnigerweise, dass nun dem neuen Papierchen nichts mehr im Wege stünde. Fast geschafft, vermutete ich.
Die neue Hürde hieß zwei gültige Reisepässe. Na, das kann ja gar nicht sein. Also sollte ich den annullieren lassen, in welchem das laufende Visum eingeklebt war. Gute Idee, dann komme ich ja nicht wieder ins Land, also nicht wieder hierher, wenn ich den Pass zu Hause ungültig machen lasse. Und es geht nur da. Also ließen sie mich schmoren bis zum Schluss. Donnerstag Abend schüttelten mich Zweifel und Angst, was denn nun werden soll. Ich wälze finstere Rachegedanken in meinem Kopf wegen dieser Nervenmühle.
Am Freitag früh kam die SMS der Kanzlei, das Visum läge vor. Der große Nilpferdsturmschrei durchdrang die dicken Mauern des Hauses aus den fünfziger Jahren, in dem ich wohne. Nach meiner wöchentlichen Livesendung flitzte ich so schnell es ging in die Kanzlei, um die Unterlagen und den Pass anzuholen Danach noch kleinere Einkäufe, Waschmaschine anwerfen, Alltagskram also. Ich hatte weder Radio gehört, noch ins Internet oder Fernsehen geschaut. Als ich dann den Computer hochfuhr und als erstes die Meldung, dass Chodorkowski frei ist, las, wollte ich es nicht glauben, konnte aber die Tränen nicht zurück halten. Die liefen einfach so übers Gesicht.
Warum dieser Ausbruch? Vielleicht eine große Erleichterung darüber, dass es doch noch Lichtblicke gibt, dass alles nicht ganz so schwarz ist, wie wir es malen? Ich weiß es nicht. Die Aktion der Befreiung war ja mehr als mysteriös und gleicht eher einem Rausschmiss aus dem Land. Der berühmteste Häftling ist frei, aber er stört nicht. Genialer Handstreich. Im Zuge der Amnestie, die anlässlich des 20. Jahrestages der Verfassung veranstaltet wird, kommen noch ein paar bekannte Leute frei, unter anderem auch die beiden jungen Frauen der Punk-Rock-Gruppe Pussy Riot. Aber das ist für die beiden nicht mehr so bedeutend, denn ihre Haftstrafe endet in zwei Monaten ohnehin. Aber die Propagandawelle zur Amnestie ist stärker als die Amnestie selbst.
Viele Ausnahmen und Winkelzüge verhindern eine massenhafte Entlassung von Einsitzenden in die Freiheit, die auf recht merkwürdige Weise hinter
Gitter kamen oder harte Urteile für Lappalien hinnehmen mussten. Über all diesen Entscheidungen geistert das Gespenst der ukrainischen Unruhen, die Angst vor einem Überschwappen ist spürbar. Ich glaube aber, dass die Angst unbegründet ist, denn die Russen sind entweder eingelullt von den gleichgeschalteten Medien, apathisch oder politisch desinteressiert. Und der wache Teil der Bevölkerung wurde mit Erfolg auseinander gebracht. Kleinliche Streitereien unter den Oppositionellen und Unvermögen aufeinander zuzugehen kennzeichnen die Lage.
Moskau gibt sich gerade mal wieder winterlich, da könnte sogar Weihnachtsstimmung aufkommen. Ich vermisse allerdings in diesem Jahr die Megastaus vorm Jahresende, der ultimative Ansturm auf die Einkaufszentren scheint zum Leidwesen der Händler auszubleiben. Das ist verwunderlich, denn die Russen, allen voran die Moskowiter, drehten bisher noch jeder Krise eine Nase und ließen es ungeachtet trüber Aussichten krachen. Sie werden sich doch nicht untreu werden? Hoffentlich bringt mich der Flieger wohlbehalten zum deutschen Weihnachtsmann. Könnte klappen, wenn der Pilot seinen Pilotenschein nicht gekauft hat. Dieser neue und lebensgefährliche Skandal hält uns gerade in Atem! Langweilig wird es hier garantiert nicht!
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