Russische Trinksprüche: Die richtige Wortwahl bei Tisch

Bild: Nijas Karim

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Bei einem russischen Festgelage darf das Aussprechen von Trinksprüchen nicht fehlen. Zu offiziellen Anlässen werden meist ernsthafte Worte gewählt, im Freundes- und Familienkreis hingegen wird häufig ein leicht ironischer Ton angeschlagen.

Gemeinhin wird angenommen, dass die Russen beim Anstoßen einander „Na sdorowje!“ („Zum Wohl!“) wünschen. Doch das stimmt nicht ganz. Beim Erheben des Glases sagen alle Anstoßenden „Wasche sdorowje!“ („Euer/Ihr Wohl“) oder „Twojo sdorowje!“ („Dein Wohl“), aber streng genommen ist dies gar kein Trinkspruch. Der klassische Trinkspruch hat eine komplexere Struktur: Der erste Teil besteht aus einer kurzen Geschichte und der zweite Teil ist eine humorvolle oder paradoxe Moral, auf die dann auch angestoßen wird.

Der Held der populären sowjetischen Filmkomödie „Kawkaskaja pleniza“ („Gefangen im Kaukasus“), der junge Volkskundler Schurik, reist in den Kaukasus, um die Märchen und Geschichten, Legenden und Trinksprüche der Region zu sammeln – und jeder Einheimische, dem er begegnet, erzählt ihm seinen Trinkspruch. Zum Beispiel: „Mein Großvater sagt: Ich habe den Wunsch, ein Haus zu kaufen, aber nicht die Möglichkeit dazu; ich habe die Möglichkeit, eine Ziege zu kaufen, aber nicht den Wunsch dazu. Trinken wir also darauf, dass unsere Wünsche mit unseren Möglichkeiten zusammenfallen!“

Jeder Trinkspruch führt unweigerlich dazu, das Weinglas bis zur Neige auszutrinken, denn „ein Trinkspruch ohne Wein ist wie eine Hochzeit ohne Braut“. Einer der im Kaukasus normalerweise recht langen Trinksprüche endet mit den Worten: „Und als der gesamte Schwarm in den Süden flog, sagte ein kleiner, aber stolzer Vogel: ‚Ich, für meinen Teil, fliege direkt zur Sonne.‘ Er flog immer höher und höher, aber bald schon verbrannte er sich die Flügel und fiel auf den Grund einer tiefen Schlucht. Lasst uns also darauf trinken, dass sich niemand von uns, so hoch er auch fliegen mag, vom Kollektiv lossagt!“ Worauf der bereits völlig betrunkene Schurik von ganzem Herzen zu weinen beginnt. „Was ist mit dir los, mein Freund?“, fragen die besorgten Gastgeber. „Der Vogel tut mir leid!“, antwortet Schurik unter Tränen. Und dieser Spruch (im Original: „Ptischku schalko!“) ist heute eine weitverbreitete Redewendung, mit deren Hilfe man auf übermäßigen Pathos reagiert.

Standard-Trinksprüche zu jeder Gelegenheit

Die rituellen Festgelage werden normalerweise von den entsprechenden Standard-Trinksprüchen begleitet. Bei einer Geburtstagsfeier wird der erste Trinkspruch auf das Geburtstagskind ausgebracht – mit den besten Wünschen für die Gesundheit, den Erfolg und ein langes Leben –, der zweite ist immer den Eltern gewidmet. Bei einer Hochzeit lautet der erste Trinkspruch: „Auf das Glück der Jungvermählten!“ Im weiteren Verlauf der Feier wird dann immer wieder „Gorko!“ („Bitter!“) gerufen. Dies ist wahrscheinlich der kürzeste russische „Trinkspruch“ und soll symbolisieren, dass die Speisen auf dem Tisch bitter sind. Um sie zu „versüßen“, müssen die Jungvermählten aufstehen und einander so lange wie möglich küssen, wobei die anwesenden Gäste die Dauer des Kusses durch lautes Mitzählen ermitteln: „Eins, zwei, drei, vier, fünf...“ Nach dem Kuss werden natürlich die Wein- oder Schnapsgläser erhoben.

Bei einem Leichenschmaus wird als eine Art Trinkspruch normalerweise eine besonders rührende oder lichte Episode aus dem Leben des Verstorbenen erzählt und mit den Worten „Wetschnaja pamjat'!“ („Ewiges Angedenken!“) oder „Pust' semlja jemu budet puchom!“ (sinngemäß: „Ruhe in Frieden!“) beendet. Auf Verstorbene trinken die Leute, und zwar nicht nur beim Leichenschmaus, ohne dabei mit den Gläsern anzustoßen. Festgelage, die aus keinem besonderen sozialen Anlass abgehalten werden, sondern lediglich, um gemütlich die Zeit miteinander zu verbringen, werden normalerweise ebenso von Standard-Trinksprüchen begleitet, quasi als eine Art „Sprach-Verbinder“.

Der erste Trinkspruch lautet üblicherweise „Na wstretschu!“ („Auf das Beisammensein!“) oder – leicht ironisch – „So swidanizem!“ („Auf das Wiedersehen!“). Damit die Gäste schneller in Stimmung kommen, wird gleich noch einmal angestoßen und geäußert: „Meschdu perwoj i wtoroj prometschutok ne bol'schoj“ (Wörtlich: „Zwischen dem ersten und zweiten Glas ist die Pause nicht so groß“, oder wie es im Deutschen heißt: „Auf einem Bein kann man nicht stehen“). Die nächsten Runden werden in der Regel durch lakonische Kommentare begleitet, wie zum Beispiel: „Nu, wsdrognuli!“ (von „wsdrognut'“ – „zusammenzucken“), „Nu, pojechali!“ (von „pojechat'“ – „losfahren“), „Nu, poneslas'!“ (von „ponesti“ – „losdüsen“, „losflitzen“).

Irgendwann, meist zum Höhepunkt des Festgelages, wird dann der Trinkspruch „Sa prekrasnych dam!“ oder „Sa prisutstwujuschtschich dam!“ auf die anwesenden Damen ausgesprochen. Normalerweise findet sich jemand, der hinzufügt, dass richtige Männer auf Damen im Stehen trinken, woraufhin sich alle Männer erheben und ihre Gläser in einem Zug austrinken. Früher galt es als selbstverständlich und besonders männlich, dass das Wein- oder Schnapsglas nach jedem Trinkspruch vollständig geleert wurde, aber in der heutigen russischen Gesellschaft ist dies fast schon anstößig. Trotzdem werden die Gläser, egal ob sie vollkommen oder nur zum Teil geleert sind, vor jedem Trinkspruch wieder aufgefüllt – dies wird als „osweschit' („auffrischen“) bezeichnet.

Ein weiterer Standard-Trinkspruch ist der leicht ironisch gemeinte Wunsch „Sa sbytschu metscht!“ („Auf dass die Wünsche sich verwirklichen!“). Eigentlich müsste es richtig heißen „Sa to, chtoby sbywalis' metschty!“, aber diese verballhornte Form erinnert an die Propagandalosungen aus Sowjetzeiten.

Neue Trinksprüche übernimmt man gern

Nach der Verfilmung von Michail Bulgakows Erzählung „Sobatsch'e serdze“ im Jahr 1980 wurde der vom Helden Scharikow ausgebrachte, absurde Trinkspruch „Schelaju, chtoby wsjo!“ („Ich wünsche, dass alles!“) äußerst populär: Seine Unvollständigkeit und Sinnlosigkeit spiegelt auf paradoxe Weise den rituellen Charakter eines jeden Trinkspruchs wider.

Einer der Helden eines anderen sowjetischen Films, „Ijulskij doschd' („Juliregen“), spricht als Trinkspruch die Worte „Wsewo choroschewo!“ („Alles Gute!“) aus. „Bedeutet das ‚Auf Wiedersehen‘?“, wird er von einer erschrockenen Dame gefragt.  „Nein“, antwortet er. „Das bedeutet einfach nur ‚Alles Gute!‘“ Wie im Deutschen wird diese Redewendung im Russischen nämlich auch beim Abschied verwendet.

Beabsichtigen die anwesenden Gäste, nach Hause zu gehen, bietet man ihnen traditionell an, „Na pososchok!“ zu trinken. Dieser Absacker hat seinem Namen vom Wort „posoch“, einer Art Wanderstab. „Pososchok“ ist die Verkleinerungsform und verweist darauf, dass den Gehenden ein sicherer Weg nach Hause gewünscht wird.

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