Bild: Natalja Michajlenko
Beim Anblick Isadora Duncans wäre es selbst einem fantasiebegabten Betrachter nicht in den Sinn gekommen, dass sie tanzt. Die recht füllige Dame wirkte ganz und gar nicht wie eine Ballerina. Auf Zehenspitzen stehen konnte sie nicht. Die Harmonie ihrer Bewegungen dagegen machte sie zu einer Figur, die Tänzerinnen in Reliefdarstellungen aus dem alten Griechenland hätte entsprungen sein können.
Diese Ähnlichkeit war nicht zufällig. Isadora hatte sich eingehend mit griechischer und römischer Tanzkunst beschäftigt. Ihre Besessenheit von der Antike nahm teilweise absurde Formen an: So spazierte sie zum Beispiel in einer Tunika durch die Stadt. Heute würde das wahrscheinlich niemandem auffallen. Im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts aber kam das einem Skandal gleich. Spießig-affektierte Damen und Herren mit Zylindern begrüßten damals einander aus fünfzig Meter Entfernung. Und da kommt sie des Weges: zerzaust, barfüßig und in dem Kleid einer griechischen Tänzerin. Als sie in einem solchen Aufzug nach Griechenland reiste und die Straßen Athens entlangschlenderte, endete ihr Ausflug beinahe auf der Polizeiwache.
Sie wurde nicht nur von Theatern engagiert, sondern auch zu üppigen Festen eingeladen. Isadora hatte den Ruf, gelegentlich in der Öffentlichkeit nackt aufzutreten. Für sie war das ein Befreiungsschlag gegen alles Konventionelle: die Kleidung abwerfen und zum Natürlichen, dem Naturzustand, zurückkehren. Aber diese Idee verstanden die wenigsten. Die Mehrheit erlebte ihre Vorstellungen als Striptease. Ihre berühmteste Epigonin war die Tänzerin und Spionin Mata Hari. Das Tanzen entdeckte sie unter dem Eindruck einiger Aufführungen von Isadora. Sie tanzte natürlich nackt. In ihrer Freizeit, nach ihrer geheimdienstlichen Arbeit, imitierte sie malaiische und indische Tänze. Aus heutiger Sicht handelte es sich dabei jedoch um eine reine Stripshow.
Isadora ging es nicht darum, zu schockieren. Sie ließ sich einfach von ihren Emotionen überwältigen. Geistiges und Körperliches waren im Bewusstsein des Publikums jener Zeit streng getrennt: Kunst ist Kunst, Sex ist Sex. In Isadoras Kunst lebten diese beiden Sphären untrennbar vereint.
Vielsagend war ihre Beziehung zu Stanislawski. Begeistert von seinen Inszenierungen stürmte sie einmal nach der Vorstellung hinter die Bühne und sagte, sie wolle für Konstantin Sergejewitsch nackt tanzen. Stanislawski reagierte gelassen. „Das könnte interessant werden", sagte er. „Das schaue ich mir unbedingt an, mit meiner Frau Maschenka!"
Stanislawski war kein Mensch der Extreme oder bedingungsloser Entscheidungen, kein Grenzgänger wie sie. Die kulturelle Tradition, die seinen Hintergrund bildete, war ausgewogen, zurückhaltend und nüchtern. Schließlich aber endete die Kollision dieser Antipoden, die ein Beziehungsdrama und eine Lawine an Ereignissen hätte auslösen können, mit einer Anekdote.
Ein wirkliches Drama in Isadoras Leben sollte sich später ereignen, schon nach der Revolution, als sie in Moskau eine Schule für modernen Tanz eröffnet hatte und eigene Vorstellungen gab. An einem dieser Tanzabende machte sie Bekanntschaft mit Sergej Jessenin. Isadora tanzte die Internationale. Schwer vorstellbar, wie die Arbeiter darauf reagierten, wahrscheinlich aber äußerst überrascht: Eine nur leicht bekleidete, nicht mehr junge Frau springt über die Bühne und lässt ihren scharlachroten Schal durch die Luft fliegen. Was konnte das bedeuten? Im Publikum aber gab es einen jungen Mann, der genau richtig reagierte. Der Dichter Sergej Jessenin begriff sofort, dass er etwas unternehmen musste. Etwas Schrilles, Ausdrucksstarkes. Er fluchte laut: „Haut alle ab!" und fing an, vor Isadora einen wilden, absurden, aber leidenschaftlichen Tanz aufzuführen. Dann fiel er auf die Knie. Isadora strich ihm über seine Haare und sprach das Wort „Engel" zu ihm. Sie schaute ihm in die Augen und sagte: „Teufel!" Das war die Liebeserklärung der beiden.
Wie sie sich verständigt haben, bleibt ein Rätsel. Sie konnte fast kein Russisch, er kaum Englisch. Mit Sicherheit verstand sie seine Gedichte nicht. Aber Jessenin, wie Isadora selbst, machte keinen Unterschied zwischen Leben und Poesie. Die Poesie war sein Leben, so wie ihr Leben der Tanz war.
Nach der Hochzeit nahm Jessenin einen doppelten Familiennamen an: Duncan-Jessenin. Im familiären Kreis nannte er Isadora vertraulich Dunka, sie sprach ihn höflich mit Sergej Alexandrowitsch an. Das Leben der beiden fügte sich wunderbar. Sie traten sogar gemeinsam auf. Sie tanzte, er las Gedichte.
Dann nahm Isadora ihn mit nach Europa, nach Amerika, in die große Welt. Dort kannte man Jessenin nicht, er fühlte sich fremd. Seine Schwermut versuchte er im Alkohol zu ertränken. Er verteilte Isadoras Kleider an Bettler, randalierte in Restaurants. Als die Zeitungen schrieben, die große Isadora sei mit ihrem jungen Mann angereist, packte Jessenin solcher Zorn, dass er mit seinem Stiefel auf sie losging. Isadora ertrug sein zügellosen Gebaren schließlich nicht länger und fuhr ohne ihn nach Paris. „Dann lass dich nicht aufhalten, alte Vettel", soll Jessenin gesagt haben. Wenige Wochen später schickte er ihr ein Telegramm: „Ich liebe eine andere, habe eine Frau, bin glücklich." Glücklich war er natürlich nicht, es war gelogen. Sein Privatleben entglitt ihm immer mehr. Jessenin trank, führte Gespräche mit dem Schwarzen Mann, dem Teufel, der in seiner Fantasie lebte, und verlor allmählich den Verstand. Schon bald nach ihrer Trennung nahm Jessenin sich das Leben. Ein anderes Ende als dieses tragische konnte sein Leben nicht nehmen. Wer ihn kannte, wusste das.
Isadora überlebte ihn um zwei Jahre. Ihren letzten Tanz tanzte sie in Nizza. Sie setzte sich in ein Auto, um ihren Hals hatte sie ihren berühmten scharlachroten Schal gewunden, denselben, mit dem sie vor Jessenin getanzt hatte. Sie sagte zu ihren Begleitern: „Lebt wohl, meine Freunde, ich fahre in die Herrlichkeit!" Das Auto setzte sich in Bewegung, der Schal verfing sich in einer Radspeiche und strangulierte sie. Schenkt man Isadoras Worten Glauben, dass sie bereits im Mutterleib mit dem Tanzen begann, dann war ihr gesamtes Leben ein Tanz – von Anfang bis Ende.
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