Ich dachte schon, sie seien endgültig von der Bildfläche verschwunden, die Etagendamen in russischen Hotels. Damals, in den sowjetischen Herbergen, wachten sie über die Moral der Etagenbewohner mit Argusaugen. Wenngleich es da nicht so einfach war, auch ohne die Hotelzerberusse, sexuellen Ausschweifungen nachzugehen. Es gab Zimmer mit mehreren Betten, in denen wildfremde Menschen zusammen gewürfelt wurden. Natürlich nur gleichen Geschlechts. Da half auch über den Flur schleichen zur frisch aufgegabelten Angebeteten nichts, denn in ihrem Zimmer lagen ja noch ein paar wildfremde Frauen. Manche waren da sicher vor Boris Becker auf die Idee mit Abstellkammern aller Art gekommen. Die Gemeinschaftsduschen am Ende eines jeden Korridors fielen weg, denn sie standen unter Beobachtung der Moralwächterinnen.
Später, als sich zu Zeiten der Perestroika der Keuschheitsgürtel etwas lockerte und immer mehr Einzel- und Doppelzimmer in Mode kamen, noch dazu mit eigener Dusche und Toilette, durfte es ganz offiziell Sex geben, dessen Existenz zu Hochsowjetzeiten mal munter mal verkniffen rundweg geleugnet wurde. Nun regelten die Etagendamen den Verkehr im wahrsten Sinne des Wortes. Die mehr oder weniger professionellen Nachtfalter wurden von ihnen an bedürftige Herren weiter geleitet. Die strengen Damen sorgten auch dafür, dass den Mädchen nichts passierte. Natürlich nicht ohne ein Entgeld.
Später nahmen sie entweder etwas zu eifrig ihre Aufgabe wahr oder die Zuhälter, diese Kaste hatte sich blitzschnell gebildet, waren zu gierig geworden, denn jeder Gast männlichen Geschlechts wurde mit den eindeutigen Angeboten regelrecht bombardiert, egal, ob er den Wunsch dazu geäußert hatte oder nicht. Pausenlose Telefonanrufe und nächtliches Klopfen an die Zimmertür waren durchaus üblich.
Aber so ganz ohne Zerberus zu spielen kamen die Damen, die meist im reifen Alter und Respekt einflößend hinter ihren Schreibtischen thronten, dann doch nicht aus. Als neue Opfer ihres Aufmerksamkeitswahns kamen Besucher der Hotelgäste in Frage. Besonders unwirsch wurden Frauen behandelt, denn sie hätten ja dem Kerngeschäft schaden können. Ich war in dieser Aufbruchszeit als Reiseleiter im Lande unterwegs und musste natürlich nach meinen Touristen sehen. Das war oft ein hartes Stück Arbeit, bis zu ihnen vorzudringen. Immerhin waren sie ja Ausländer und besonders gefragte Kunden der nächtlichen Umtriebe.
Dann verschwanden die Etagendamen völlig aus den Hotels. Landesweit konnte ich sie nirgendwo mehr entdecken. Wie groß war mein Erstaunen, diese ausgestorben geglaubte Berufsgruppe in einem größeren Hotel In Irkutsk in alter Frische auf den Etagen zu sehen. Freundlich gab die Fee für meine Etage Auskunft, half mir eine Teekanne zu organisieren, gab Ausflugstipps und Insiderinformation weiter. Sie schaut auch gleichzeitig den Zimmermädchen auf die Finger. Und kürzt die unsägliche Prozedur der Zimmerübergabe bei Abreise merklich ab. Das passierte sonst von der Rezeption aus und dauerte entsprechend länger.
Ob sie ohne kleine selbst erdachte Nebenjobs über die Runden kommen weiß ich natürlich nicht genau. Aber ich könnte mir vorstellen, dass nach Inkrafttreten des Gesetzes über den eingeschränkten Verkauf von Alkohol
nach der festgelegten Sperrzeit in ihren großen Schreibtischen und Countern das eine oder andere Fläschchen für gute Kunden bereit liegt. Zu einem Aufpreis, versteht sich.
So schleicht sich eine alte, schon verloren geglaubte Unsitte nach der anderen wieder ein. Zu Sowjetzeiten hielten zum Beispiel die Taxifahrer abends stets Wodka für vertrauenswürdige Käufer bereit. In den Läden gab es abends nichts Hochprozentiges mehr zu kaufen. Dem Alkohol rückte man heutzutage verstärkt zuleibe, der Raucherei auch, jetzt kommt der Sex dran. Er wird von nicht Ernst zu nehmenden Dumaabgeordneten sogar in seiner Häufigkeit reglementiert und Reizwäsche soll nicht mehr eingeführt werden dürfen. Nicht anpassungswillige Medien werden geschlossen oder in andere Hände und Köpfe überführt, die mit den Wölfen heulen und keine kontroversen Meldungen und Artikel publizieren. Auch wie früher.
Bleibt abzuwarten, ob die Schäfchen das so einfach schlucken werden. Immerhin haben sie in jüngster Vergangenheit etwas anderes gesehen, gelesen und erlebt. Außerdem ist die Welt durchsichtiger geworden, das allgegenwärtige Internet füllt Informationslücken geschickt und fix. Da müssen denn schon andere Restriktionen her. Vorbilder dafür gibt es leider Gottes auch.
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