Ein unerwarteter Anruf aus Deutschland löste neben großer Freude auch einen Schwall von Erinnerungen aus. Mit dem alten Bekannten, der trickreich und auf Umwegen meine Moskauer Telefonnummern heraus gefunden hat, verbinden mich seit nunmehr vier Jahrzehnten freundschaftliche Beziehungen. Wir haben uns während eines Freundschaftszuges kennen gelernt, wo er mit seiner Band in der Kulturdelegation ins große Land reiste. Genau diese Kulturtruppe habe ich damals betreut, ihre Auftritte in Minsk und Moskau moderiert und stets und ständig alles übersetzt. Das war eine stolze Leistung, denn ich war damals gerade erst am Anfang des zweiten Studienjahres.
Das war die erste Bekanntschaft mit der dem riesigen Land. Alles war neu und aufregend, wurde bestaunt und mit dem kleinen Heimatland insgeheim verglichen. Da es ein Freundschaftszug war, herrschte Friede, Freude Eierkuchen. Uns wurden nur die Filetstückchen gezeigt, in den Hotels gab man sich Mühe, wir trafen nur Menschen, die sich freuten, uns zu sehen und die in nicht enden wollenden Trinksprüchen die Freundschaft hochleben ließen.
Das Bild wurde dann ein Jahr später schon etwas gerade gerückt, als ich erst einen Monat in einer Studentenbaubrigade in einer Siedlung bei Minsk mit meinen Kommilitonen an einer großen Hühnermastanlage mit baute und dann kurze Zeit später zum einjährigen Teilstudium nach Kaluga kam. Ich sah während der Brigadezeit, wie die Menschen auf dem Lande lebten, mampfte das eintönige Essen und quälte mich mit den unsäglichen Toiletten herum.
In Kaluga lernte ich sehr viele Menschen kennen, mit einigen halte ich bis heute Freundschaft, die in unterschiedlichster Weise über das Land und die Politik reflektierten, vom Barkeeper der einzigen richtigen Bar bis zum Enkel des Physikers und Vaters der Raumfahrt Ziolkowski, von der Klavierlehrerin am Konservatorium bis zum Kraftfahrzeugschlosser erzählten alle auf sehr verschiedene Weise über das Leben. Mann gab mir auch vertrauensvoll eine völlig zerlesene Kladde, damit ich sie lesen konnte, natürlich nur bei ihnen zu Hause, nicht etwa im Internat. Es war ein Auszug aus Solschenizyns „Archipel Gulag". Dieses Buch war in der Sowjetunion streng verboten.
Nach der Lektüre war ich völlig durcheinander, hatte tausend Fragen, die entweder gar nicht oder zögerlich beantwortet wurden. Ich wusste natürlich genau, dass ich darüber keinen am Institut fragen konnte. In den Vorlesungen zur Sowjetliteratur gab es Solschenizyn nicht. Er existierte nicht. Da macht man sich schon so seine Gedanken.
Als die Zeit der Perestroika näher rückte, wurde die Gesellschaft schon offener und kritischer mit sich selbst. Kritische Filme und Bücher hatten schon hin und wieder eine Chance. Mit Machtantritt Gorbatschows brach der Damm der Zensur. Die verwirrten Menschen erfuhren Dinge übe ihr Land, die sie verzweifeln ließen. Die einen suchten die offene Diskussion, verschlangen alles, was bis dahin verboten war. Die anderen versanken in Lethargie und das neue machte ihnen Angst.
Nur kurz war der Windhauch der Freiheit, des Aufbruchs. Die alte gewohnte Denkweise setzte sich wieder durch, Hörigkeit der Obrigkeit gegenüber gehörte wieder zum guten Ton, Passivität, Initiativlosigkeit und rückwärts gerichtetes Denken nisteten sich auf lange ein.
Umtriebige junge Männer mit besten Beziehungen nach oben und Nomenklaturkader saßen zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Banja und
bekamen große Stücke vom Kuchen ab , teilten die Bodenschätze und Filetstücke des Landes unter sich auf und gelangten so in kürzester Zeit zu sagenhaftem Reichtum. Daneben blühte das organisierte Verbrechen. Die Beamten beobachteten neidvoll den Prozess und wetzten die Messer. Inzwischen haben sie das Ruder fest in der Hand, dirigieren die Geldströme aus Haushalt und Wirtschaft nach Gutdünken, haben für mehrere Generationen ihrer Familien Reichtum angehäuft und ihn erfolgreich ins Ausland geschafft. Um die Massen ruhig zu halten, wird die Patriotismuskarte gespielt, in allen Nuancen.
Das Internet versalzt ihnen die Suppe etwas, es werden Machenschaften aufgedeckt und sogleich veröffentlicht. Besonders dreiste Beamtenstreiche rufen Empörung hervor, zumindest im Netz. Nun sinnen diese über Daumenschrauben fürs Internet nach. Der weißrussische Nachbar war da pfiffiger und hat den Informationszugang ganz schön eingeengt. Das Land döst vor sich hin. Die anderen slawischen Nachbarn machen gerade ihrem Unmut mit der herrschenden Macht Luft, versammeln sich monatelang auf dem zentralen Platz in Kiew und haben ihren ungeliebten Präsidenten verjagt. Ich bin sehr gespannt, was sich in Russland in naher Zukunft abspielen wird, Hoffnung und Bedenken liegen gleichauf.
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