Russische Städte: Die Macht des Namens

Bild: Nijas Karim

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Städtenamen in Russland wechselten so oft wie das politische Regime. Viele Städtenamen haben ihren Platz in russischen Sprichwörtern gefunden, und manchmal lässt sich mit ihnen auch auf elegante Weise ein politisches Statement ausdrücken.

In der russischen Toponymie, der Erforschung von Ortsnamen, spiegelt sich die wechselvolle Geschichte Russlands wider. Sehr aktuell ist gerade wieder die Diskussion, ob Wolgograd nicht wieder den sowjetischen Namen Stalingrad erhalten solle.

 

Wolgograd hat viele Namen

Stalingrad hieß die Stadt von 1925 bis 1961. Befürworter argumentieren damit, dass die Rückkehr zum alten Namen an die Heldentaten des russischen Volkes unter Josef Stalin im Großen Vaterländischen Krieg erinnern würde. Die Gegner befürchten, dass dies einer Rehabilitierung Stalins gleichkäme, der von vielen auch als skrupelloser Tyrann und Diktator gesehen wird. Möglich wäre die Namensänderung zumindest. Präsident Wladimir Putin erklärte kürzlich: „Gemäß russischem Gesetz

müssen die Einwohner ein Referendum abhalten, um über eine Namensänderung zu entscheiden." Keine Rolle in dieser Diskussion spielt übrigens eine Umbenennung in den ursprünglichen Namen Zarizyn. So hieß die Stadt immerhin seit ihrer Gründung mehr als drei Jahrhunderte lang.

Dahingegen hat man der ehemaligen Hauptstadt des zaristischen Russlands sehr wohl ihren alten Namen zurückgegeben, hieß doch die „Perle" an der Newa vor dem Ersten Weltkrieg Sankt Petersburg, und zwar nicht, wie viele denken, zu Ehren ihres Gründers Peter I., der sie zu Beginn des 18. Jahrhunderts erbauen ließ, sondern zu Ehren des Heiligen Peter. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde der Name der Stadt „russifiziert", indem man die deutsche Komponente wegließ. Dadurch hieß die Stadt nicht mehr Petersburg, sondern Petrograd. Doch bereits zehn Jahre später, nach dem Tod Lenins, taufte man die Stadt erneut um. Ab 1924 hieß Petrograd Leningrad. Anfang der 1990er-Jahre gab man der Stadt ihren ursprünglichen Namen Sankt Petersburg zurück.

Die Tradition, russische Städte nach mehr oder weniger angesehenen, verstorbenen sowjetischen Politikern zu benennen, zog sich fast durch das gesamte 20. Jahrhundert bis zum Zerfall der UdSSR. Es gab Städtenamen wie (Grigori) Ordschonikidse, (Walerian) Kuibyschew, (Leonid) Breschnew und (Juri) Andropow. Bis heute sind Städte wie Kirow, Kaliningrad (ehemals Königsberg) und sogar Toljatti, benannt nach dem italienischen Vorsitzenden der kommunistischen Partei Palmiro Togliatti, auf der Landkarte zu entdecken. Letztere Stadt ist zudem dafür bekannt, dass sie ein Automobilwerk beherbergt, wo man die berühmten Autos Schiguli herstellte, deren Vorbild ein Modell der italienischen Marke Fiat war.

 

Spruchreife Städtenamen

Mit einer ganzen Reihe von Städtenamen verbinden die Russen bestimmte Sprichwörter, und das gilt nicht nur für russische Städte.

Mit Moskau verbindet man das russische Sprichwort: „Moskau glaubt den Tränen nicht". Dieses Sprichwort besagt, dass nur die Starken und auch jene Erfolg haben können, die den Mut nicht verlieren, zu kämpfen, woran sie glauben. Nach diesem bekannten Sprichwort wurde auch der 1980 mit einem Oskar prämierte Film über drei aus der Provinz stammende Frauen benannt, die im Moskau der 1950er-Jahre nach einigen Irrungen des Schicksals ihr Leben selbst in die Hand nehmen, um glücklich zu werden.

Was Kiew anbelangt, so wird mit der Stadt in der russischen Folklore ein in geografischer Hinsicht weit entfernter Ort assoziiert, zu dem man zwar schwierig, aber dennoch hinfinden kann: „Die Sprache führt bis nach Kiew", heißt es dann. Eine andere Stadt, die zum Sinnbild eines weit

entfernten Ortes wurde, war Paris. Daran erinnert das Sprichwort „Paris sehen und sterben". Jedoch ist die französische Hauptstadt heute wesentlich leichter erreichbar als früher, und sie ist bei Weitem kein Ort, den man besichtigen will, um danach gleich zu sterben.

Ein schon knapp hundert Jahre alter Punkt auf der Weltkarte, mit dem man in Russland ebenfalls weit entfernte Orte verbindet, ist Rio de Janeiro. Die Stadt erlangte in Russland vor allem durch den satirischen Roman „Zwölf Stühle", den die beiden Schriftsteller Ilja Ilf und Ewgenij Petrow verfasst haben, Berühmtheit. In ihm geht es um den romantischen Abenteurer Ostap Bender, den es in eine trostlose, provinzielle Ortschaft in der Sowjetunion verschlagen hat und dort den inzwischen zum Kult gewordenen Satz ausspricht: „Nein, das ist nicht Rio de Janeiro." Zur Fußball-WM wird Rio näher an Russland heranrücken. Zahlreiche russische Fußballfans werden nach Brasilien reisen, um die Nationalmannschaft anzufeuern.

Die chinesische Metropole Schanghai ist hingegen zu einem Symbol für Unordnung und Chaos geworden. Denn heute werden in Moskau die Bezirke der Stadt als „Schanghaier" bezeichnet, welche von den Behörden nicht reguliert wurden und von einem ungehemmten und chaotischen Baustil geprägt sind.

Aufgrund der phonetischen Eigenschaften ihres Namens erlangte auch die dänische Stadt Kopenhagen eine besondere Konnotation in der russischen Sprache. Das Sprichwort „In diesem Bereich bin ich kein Kopenhagen"

bedeutet nämlich: „In diesem Bereich bin ich nicht kompetent". „Kopenhagen" wird insbesondere dann gesagt, wenn man nicht genau weiß, wie man das Wort „kompetent" ausspricht.

Manche russischen Städte haben auch Namensvetter in anderen Ländern. So beispielsweise die russische Stadt Belgorod und die serbische Hauptstadt Belgrad (zu Deutsch: „Weiße Stadt") oder Lipezk und Leipzig („Stadt der Linde"). Darüber hinaus gibt es auch direkte Übernahmen von russischen Städtenamen, wie etwa im Falle der US-amerikanischen Städte Moscow und St. Petersburg. Des Weiteren gibt es in Russland Städte, deren Namen die gleiche Bedeutung in verschiedenen Sprachen hat, zum Beispiel der Kurort Adler an der Schwarzmeerküste und die Stadt Orel, welche auf Deutsch ebenfalls „Adler" heißt.

 

Ortsnamen als politisches Statement

Zur Umänderung von Städtenamen in ehemaligen sowjetischen Republiken gab es nach dem Zerfall der UdSSR noch mehrere Rechtsfälle. Unproblematisch war die Umbenennung der kasachischen Stadt Alma-Ata, die in Almaty umbenannt wurde. Etwas anders verlief die Namensänderung allerdings bei der estnischen Hauptstadt Tallinn. Zur Zeit der Sowjetunion hatte man die estnische Hauptstadt mit nur einem „n" am Ende geschrieben – Tallin. Dann erhielt die Stadt nach dem Zerfall der Sowjetunion ein zweites „n". In Estland bestand man darauf, dass die Stadt auch in Russland Tallinn geschrieben wird. Einige Jahre lang kam Russland dieser Forderung nach, doch dann wechselte es zur ursprünglichen Schreibweise mit nur einem „n" zurück. Die Frage nach einem Buchstaben hatte in diesem Fall nicht nur eine linguistische, sondern auch eine nicht unbedeutende politische Dimension.

Eine ähnliche Debatte ereignete sich 2008 im Rahmen des russisch-georgischen Militärkonflikts, als die sich auf georgischem Gebiet befindlichen Republiken Abchasien und Südossetien ihre Unabhängigkeit verkündeten. Dabei kam es dazu, dass beide Republiken die Namen ihrer

Hauptstädte umbenannten. Die abchasische Stadt Sochumi wurde zu Suchum und die südossetische Hauptstadt Zchinwali zu Zchinwal. Der Wegfall des „i" am Ende beider Namen sollte auch in sprachlicher Hinsicht die Unabhängigkeit von Georgien deutlich machen. Die Georgier ignorierten das und sprechen auch heute noch beide Städte mit einem „i" am Ende aus.

Wie mit Sprache Politik gemacht werden kann, zeigt aktuell das Beispiel der Berichterstattung über die Ukraine. Verweist man im Russischen auf Ereignisse, die sich in anderen Ländern zutragen, verwendet man die ortsbestimmende Präposition „w" (zu Deutsch: „in"), egal, ob es um die USA, Deutschland oder China geht. Im Falle der Ukraine verwendet man im Russischen jedoch die Präposition „na", was auf Deutsch zunächst ebenfalls „in" bedeutet. Allerdings wird „na" im Russischen in Verbindung mit den Namen russischer Regionen wie Ural, Kuban,  oder Ferner Osten verwendet. Deswegen herrscht auch bis heute keine Einigkeit darüber, welche der beiden Präpositionen als die richtige zu erachten ist. So ist die Mehrheit, darunter auch Sprachwissenschaftler, der Meinung, dass die traditionelle Form mit der Präposition „na" korrekt sei, während man in der Ukraine die Ansicht vertritt, dass diese Form nicht der politischen Realität entspreche.

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