Leichenschänden für Fortgeschrittene

Foto: AP

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In Krisenzeiten bleibt die Wahrheit zugunsten von interessengesteuerten Botschaften auf der Strecke – selektive Wahrnehmung bestimmt das Informationsangebot. Der Ulenspiegel fordert: Wachen Sie auf!

Ein pro-russischer Separatist posiert zynisch mit einem Kuscheltier, das er in den Trümmern der MH17 gefunden hat. Kein Bild hat wohl die deutsche Öffentlichkeit mehr aufgewühlt als dieses. Da macht so ein Barbar vor der Kamera Faxen mit dem Spielzeug eines toten Kindes. Das wirkt. Ich habe selbst gehört, was Betrachter dieses Bildes mit dem Mann alles machen würden, wenn – ja, wenn was? Genau das ist der Zweck solcher Botschaften: Hier werden Unschuldige abgeschlachtet, und die Täter sind auch noch stolz darauf. Wir müssen sie endlich stoppen. Mit Sanktionen. Mit Aktionen. Mit was für Aktionen?

Im Internet kursiert noch eine andere Version dieses Themas. Ein Video zeigt, wie der Uniformierte das Tier in die Kameras hält. Anschließend betrachtet er es kurz, legt es weg, nimmt die Mütze ab und bekreuzigt sich. Offensichtlich ist er selbst bewegt von diesem traurigen Fund. Eine völlig andere Situation, als das Foto mit dem angeblichen „Leichenfledderer" nahelegt. Dieses Video wurde beispielsweise von der Online-Ausgabe der Baseler Zeitung gezeigt, die nicht gerade als Zentralorgan für Verschwörungstheoretiker bekannt ist. Das Medium präsentiert auch eine alternative Darstellung zu den Bildern, auf denen Aufständischen Leichen Ringe von den Fingern ziehen. „Welche Version stimmt? Eine Frage, die kaum zu beantworten ist", stellt die Redaktion fest. „Die Kriegsparteien setzen Bilder und Videos als mächtige Waffe ein, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Eines ist klar: Medien dürfen solche Bilder nur äußerst zurückhaltend interpretieren."

Genau das ist leider nicht der Fall, im Gegenteil. Aus zweifelhaften Indizien werden wie durch Zauberei unwiderlegbare Beweise. Haben Sie nicht auch den Eindruck, dass wir medial vorbereitet werden auf einen echten, einen heißen Krieg? Also: „Stoppt Putin Jetzt!" Russen sind abgrundtief böse, haben Spaß daran, Flugzeuge abzuschießen und vergreifen sich anschließend auch noch an den Überresten. Die freie Welt muss sich besinnen und den Mördern entgegentreten, wenn nötig mit der Waffe in der Hand. Dann können wir den Leichenschändern endlich die Fresse polieren! Beweise? Die kommen haufenweise von den Geheimdiensten der USA und der Ukraine, was will man mehr? Genauso war's mit dem Irak: Saddam ist das absolute Böse. Der Irre von Bagdad verfügt über Massenvernichtungswaffen. Wenn er jetzt nicht neutralisiert wird, ist der Weltuntergang unausweichlich. Beweise? Bitte sehr, haufenweise, vom US-Geheimdienst frisch fabriziert!

Immer, wenn Regierungen einen Krieg brauchen und das Volk nicht so recht mitzieht, tauchen im rechten Moment Nachrichten über unsagbare

Grausamkeiten auf, die einen robusten Gegenschlag geradezu herausfordern. Genau rechtzeitig zum Jubiläumsjahr 2014.

Der Historiker Christopher Clark nannte sein epochales Werk über den Ersten Weltkrieg „Die Schlafwandler". Er zeigt darin, dass die europäischen Mächte 1914 wie in Trance der Katastrophe zustrebten. Vieles davon ist heute wieder da: die Überzeugung, Recht und Zivilisation gepachtet zu haben, die Neigung, mit zweierlei Maß zu messen, die paranoide Marotte, dem Gegenüber die schlimmsten Absichten zu unterstellen und gleichzeitig seine Möglichkeiten zu überschätzen. Fast genau 100 Jahre später kommt ein neues Sarajevo aus der Luft. Aber Clark zeigt in seinem Buch auch, dass der Krieg nicht unausweichlich war. Es gab immer auch Auswege, andere Optionen. Sie wurden nicht genutzt. Zeit wird es, die Schlafwandler von heute aufzuwecken.

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