Die „Rote Kapelle“: Ein sowjetischer Agent in Nazi-Europa

Anatoli Gurewitsch war einer der wichtigsten Agenten der Sowjetunion.

Anatoli Gurewitsch war einer der wichtigsten Agenten der Sowjetunion.

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Es heißt, Wladimir Putin habe sich für eine Karriere im Geheimdienst entschieden, nachdem er den sowjetischen Film „Tote Saison“ (1968) über die Arbeit der Geheimdienste während des Kalten Krieges gesehen hatte. Hätte er jedoch die düstere Geschichte Anatoli Gurewitschs, eines der führenden Mitglieder der „Roten Kapelle“, gekannt, wäre seine Entscheidung möglicherweise anders ausgefallen.

Anatoli „Kent“ Gurewitsch wurde in die Familie eines Apothekers geboren, in der Jiddisch, Hebräisch, Ukrainisch und Russisch gesprochen wurde.

Im Februar 1939, im Alter von 26 Jahren, leistete Gurewitsch seinen Eid und wurde unter dem Decknamen „Kent“ verdeckter Mitarbeiter der Hauptverwaltung für Aufklärung beim Generalstab der Streitkräfte der Roten Armee. Er absolvierte die Ausbildung und fuhr, ausgestattet mit dem Reisepass eines mexikanischen Künstlers, der sich in der Sowjetunion aufhielt, im gleichen Jahr nach Brüssel, wo er unter dem Namen des uruguayischen Geschäftsmanns Vincent Sierra einen legalen Aufenthaltsstatus erwarb. Allerdings wusste Sierra praktisch nichts über seine neue „Heimat“.

Leben als Illegaler und Arbeit in Belgien

„Kent“ lebte zunächst drei Jahre in Belgien, wo er die wohlhabende Erbin der florierenden Import- und Exportfirma Simexco heiratete. Als die deutschen Truppen das Land besetzten, mussten seine Schwiegereltern – tschechische Migranten jüdischer Herkunft –Belgien jedoch umgehend verlassen.

Gurewitsch musste die Leitung des Unternehmens und dessen Filialen in Paris, Marseille und anderen Großstädten Europas übernehmen. Das von ihm erwirtschaftete Geld ermöglichte es auch später noch, das sowjetische Agentennetz finanziell zu unterstützen.

„In den Bergen werden Wehrmachtbataillone auf den Krieg gegen Russland vorbereitet. Höchste Vertreter der deutschen Botschaft verhehlen nicht, dass der Angriff auf die Sowjetunion für Mai/Juni 41 geplant ist“, meldete Gurewitsch damals nach Moskau.

Die Vize-Präsidentin des "Friedensrates" der DDR und ehemaliges Mitglied der "Roten Kapelle", Greta Kuckhoff, im Jahr 1967 bei einer Gedenkfeier für die Opfer der Widerstandsbewegung in Berlin-Plötzensee. / DPA/Vostock-PhotoDie Vize-Präsidentin des "Friedensrates" der DDR und ehemaliges Mitglied der "Roten Kapelle", Greta Kuckhoff, im Jahr 1967 bei einer Gedenkfeier für die Opfer der Widerstandsbewegung in Berlin-Plötzensee. / DPA/Vostock-Photo

Allerdings wurde diese, wie auch viele andere Informationen, die „Kent“ über die Vorbereitung des Krieges gegen die Sowjetunion in Erfahrung bringen konnte, in Moskau ignoriert: Es war angeordnet worden, Stalin mit solchen Mitteilungen nicht zu erzürnen.

Im Oktober 1941 erhielt „Kent“ die Aufgabe, nach Berlin zu fahren und den verlorengegangenen Kontakt der Zentrale zu den deutschen Antifaschisten, zur Organisation „Rote Kapelle“, wiederherzustellen. In der deutschen Hauptstadt traf sich Gurewitsch mit dem deutschen Offizier Harro Schulze-Boysen, einem Neffen des Admirals Alfred von Tirpitz.

Die Informationen, die er von dem Oberleutnant der Luftwaffe erhielt, erwiesen sich als äußerst wertvoll: Sie belegten die tatsächlichen Verluste der Wehrmacht bei Moskau. Vor allem aber deckten sie die Pläne des Oberkommandos Hitlers für das Frühjahr 1942 auf. Der Hauptschlag der Faschisten Armee, so meldete Gurewitsch nach Moskau, werde nicht gegen Stalingrad, sondern den Kaukasus gerichtet sein, um sich der dortigen Erdölfelder zu bemächtigen. Dass die Rote Armee diesem Angriff so gut vorbereitet begegnen konnte, die Hauptstoßkräfte der deutschen Armee vernichtend zu schlagen vermochte und so den Durchbruch nach Baku verhinderte, war „Kents“ größter Verdienst.

Das Ende der „Roten Kapelle“

Ein Werbeplakatplakat aus dem Jahr 1971 für den DEFA-Film "KLK an PTX - Die Rote Kapelle". Foto: DPA/Vostock-PhotoEin Werbeplakatplakat aus dem Jahr 1971 für den DEFA-Film "KLK an PTX - Die Rote Kapelle". Foto: DPA/Vostock-Photo

Der Untergang kam Ende 1942, als die Brüsseler Gruppe aufflog. Aufgrund glücklicher Umstände gelang „Kent“ und seiner Frau die Flucht – erst nach Paris, dann nach Marseille. Sie schafften es jedoch nicht, sich neue Ausweispapiere zu besorgen, und am 10. November 1942 übergab die französische Polizei sie der Gestapo.

„Kent“ wurde, anders als die anderen Mitglieder des Agentenrings, weder geschlagen noch anderweitig misshandelt. Ihm wurde sogar ab und zu gestattet, die Nacht in einer Zelle mit seiner Frau zu verbringen. Allerdings wurde ihm klar zu verstehen gegeben, dass von seiner Kooperationsbereitschaft nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das Leben anderer Menschen abhänge, darunter das seiner Frau. Kurze Zeit später wurde Gurewitsch mitgeteilt, dass „in seinem Namen“ Telegramme mit unterschiedlichstem Inhalt nach Moskau verschickt wurden.

„Für Moskau sind Sie, wie man es auch dreht und wendet, bereits ein Verräter“, erklärte ihm ein Gestapogeneral.

Erst nach vielen Jahren fand man in der Sowjetunion heraus, dass Gurewitsch keinen einzigen seiner Kameraden verraten und der Gestapo nichts mitgeteilt hatte, was den Faschisten ohne ihn nicht sowieso schon bekannt gewesen wäre. Selbst seinen wahren Namen gab er nicht preis.

Zudem gelang es Gurewitsch sogar, während er sich von November 1942 bis Juni 1945 unter Arrest befand, „Informanten und Bewacher“ anzuwerben und sie davon zu überzeugen, dass die „sowjetische Regierung ihre Arbeit zum Nutzen der Roten Armee gebührend würdigen“ würde.

Der Preis der Heimkehr

Kaum war er im Juni 1945 nach Moskau zurückgekehrt, meldete er sich gleich in der Geheimdienstzentrale Lubjanka, wo ihm eröffnet wurde, dass seine Frau und sein Sohn, der in einem deutschen Gefängnis zur Welt gekommen war, „bei einem Bombenangriff“ ums Leben gekommen seien. 1947 wurde er wegen „Landesverrats“ zu 20 Jahren Haft in einem Arbeitslager verurteilt. 1955 wurde er schließlich, wie auch andere Auslandsagenten, die in die Sowjetunion zurückgekehrt waren, begnadigt.

1958 begann er, für Gerechtigkeit zu kämpfen: Er schrieb Briefe an verschiedene Instanzen und bat darum, rehabilitiert zu werden. Allerdings wurde er erneut inhaftiert und kam erst zwei Jahre später wieder frei.

Nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion wurde Gurewitsch zu 20 Jahren Haft in einem Arbeitslager verurteilt. Foto: anatoly gurevich / a-gurevich.narod.ruNach seiner Rückkehr in die Sowjetunion wurde Gurewitsch zu 20 Jahren Haft in einem Arbeitslager verurteilt. Foto: anatoly gurevich / a-gurevich.narod.ru

Dem Autor dieses Artikels war es vergönnt, den 90-jährigen Anatoli Gurewitsch 2003 in Sankt Petersburg zu treffen.

„Ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte. Vielleicht, weil die Ehre der „Firma“, die in den Kriegsjahren jede Menge Fehler beging, für einige Generäle stets über der Ehre des einzelnen Menschen steht. Vielleicht, weil ich zu ihrem Leidwesen überlebt habe. Als Zeuge dieser Fehler, als lebender Vorwurf“, sagte „Kent“ damals.

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