Die Blockade von Leningrad ist eine der schlimmsten Tragödien des Zweiten Weltkriegs. Man würde erwarten, dass eine Kunstausstellung zum Thema den Besucher durch die Tragik des Kriegshorrors vereinnahmt: Orden und Medaillen am Eingang, Ehrfurcht einflößende Hintergrundmusik in den Ausstellungsräumen. Doch schon auf den ersten Blick wird klar, dass „900 und weitere 26 000 Tage“ eine grundlegend andere Kriegsausstellung ist.
Im Jahr 2014, als die 900-tägige Blockade von Leningrad 26 000 Tage zurücklag, bereiteten junge Künstler aus Sankt Petersburg, Moskau und Hamburg auf Initiative des Goethe-Instituts eine Ausstellung vor, um die Erinnerung an die Tragödie von Leningrad ohne den für ein Kriegsthema üblichen Pathos zu erhalten.
„Deutsche und russische Künstler wurden zu einem großen Workshop nach Sankt Petersburg eingeladen“, erzählt Sneschana Winogradowa, Projektkoordinatorin am Goethe-Institut in Russlands zweitgrößter Stadt. „Sie haben sich mit Historikern und Wissenschaftlern getroffen, Denkmäler besichtigt, Eindrücke ausgetauscht und daraus Ideen für das eigene Schaffen entwickelt.“
Der maßgebliche Impuls für die gemeinsame Ausstellung war, dass die Blockade von Leningrad in Deutschland weit weniger thematisiert wird als andere Naziverbrechen. Russische und deutsche Künstler sahen sich berufen, diese Lücke zu füllen. Entstanden ist eine Reflektion zur Frage, wie die Erinnerung an eine der schlimmsten menschlichen Tragödien der Geschichte an künftige Generationen weitergegeben werden kann.
„26. Dezember. Unsere Truppen haben mehrere Ortschaften eingenommen, darunter…“ Eine Stimme aus dem Off erstattet plötzlich Bericht von der Front, auf Deutsch und auf Russisch. Es ist ein künstlerischer Trick, eine Sound-Intervention. Sie soll die unterschwellige Wahrnehmung beeinflussen, in den persönlichen Raum des Besuchers eindringen, ihn dazu zwingen, das Kriegsecho aufzunehmen. Die künstlerische Kernidee ist eine Kollision mit der Kriegserfahrung, mit der Blockade.
Die Künstler haben unterschiedliche Aspekte der Blockade aufgegriffen: Hunger, Finsternis, Tod, Trennung. Diese sind für das Publikum in verschiedenen Formaten aufbereitet.
Im heutigen Russland ist die Blockade ein wesentlicher Teil des kollektiven Gedächtnisses, das größtenteils mündlich überliefert wird. Die Schrecken der Blockade sind in den Familien, in den Schulen und im Fernsehen ein dauerhaft präsentes Thema. Den Kuratoren von „900 und weitere 26 000 Tage“ war es besonders wichtig, visuelle Formen des belagerten Leningrads darzubieten.
Eine solche Installation ist die „Hungerküche“ von Anastassia Kisilowa. Die Künstlerin Studentin der Kunst hat in einer Sankt Petersburger Kochschule die Ernährungsnotizen einer Leningrader Familie aus der Zeit ausfindig gemacht. Auf einem weißen Tisch liegen die Tagesrationen der Familie: heute drei Häufchen Salz und zwei Brotkrusten, morgen etwas Grieß, übermorgen nichts. Nach Ansicht der Künstler ist dies ebenso ein Kriegsdenkmal wie das Tor von Auschwitz, die Mutter-Heimat-Statue in Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, oder das Holocaust-Denkmal in Berlin – mit dem einzigen Unterschied, dass Anastassias Mahnmal nicht aus Marmor oder Stahl errichtet wurde. Echte Erinnerungsarbeit, die Auseinandersetzung mit der Geschichte, geschehe nicht, wenn der Mensch vor einem statischen Stein stehe, ist die Künstlerin überzeugt. Sie müsse Teil eines lebendigen Ganzen sein, das jedem Menschen vertraut ist: ein Krümel Brot, ein Häufchen Grieß.Die deutschen Künstler Tobias Muno und Tim Theo Geissler interpretieren die Erinnerung an Leningrad mit einem ganz eigenen Ansatz. Ihr Denkmal der Blockade sind drei Smartphones, die permanent Meldungen im Twitter-Format anzeigen. Die Geräte berichten je über eine historisch wichtige umkämpfte Stadt: Troja, Leningrad, Aleppo. „Diese Installation zeigt eindringlich, wie wichtig es ist, Klischees und vorgefertigte Muster bei der Rezeption der Tragödie zu vermeiden“, sagt Anastassia. „Drei belagerte Städte, drei Mal Hölle auf Erden. Wir haben uns an Tweets wie #prayforSyria inzwischen derart gewöhnt, dass wir sie nicht mehr beachten. Wenn man nun auf einem Smartphone eine Meldung über die Belagerung Leningrads oder Trojas sieht – das zerstört die Klischees und löst ganz andere Handlungsstränge im Kopf und im Herzen aus."
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