„Mutter aller russischen Städte“? - Kiew im Kreuzfeuer der Historiker

Geschichte
ALEXEJ TIMOFEJTSCHEW
Alte Chroniken bezeichnen Kiew immer wieder als „Mutter der russischen Städte“ und heben ihre Sonderstellung im Staate der Alten Rus hervor. Heute jedoch will die Hauptstadt der Ukraine kaum noch etwas mit dem Adjektiv „russisch“ zu tun haben. Auch Historiker versuchen, diese „Entrussifizierung“ zu untermauern.

«Und Oleg ließ sich nieder, um Kiew zu regieren. Und Oleg sagte: ‚Lasst es die Mutter aller russischen Städte sein!‘»

So heißt es in der Nestorchronik über den Prinzen Oleg, den ersten Führer der Alten Rus. Er habe also im 9. Jahrhundert die Entscheidung getroffen, Kiew zur Hauptstadt des jungen Staates der verschiedenen Slawenstämme zu machen.

Oleg kam aus (Welikij) Nowgorod, wo die slawischen Staaten bis dahin ihre Hauptstadt hatten, nach Kiew. Dann einte er die beiden Staatenteile. Den Namen „Kiewer Rus“ allerdings erhielt der Staat erst von Historikern des 19. Jahrhunderts.

Die Menschen in dem Kiewer Staat hießen „Rus(s)kije“ – also wie die heutigen Russen. Das Adjektiv „rus(s)kij“ gilt sprachhistorisch als die Bezeichnung für etwas „zur Rus Gehöriges“.

>>> Die sechs Hauptstädte Russlands: Wie das Zentrum der Macht wanderte

Historiker zu Sowjetzeiten behandelten solche sensiblen Identitätsfragen noch mit großer Vorsicht. „Rus“ und „russkije“ jedoch schienen dennoch Probleme bereiten zu können, da sie nicht in jedem Fall ein und dieselbe Identität beschreiben.

Die Geschichtsbücher lehrten es so:

Kiew war die Hauptstadt der Kiewer Rus, des ersten ostslawischen Staates und der Wiege der sogenannten russischen Ethnie. Erst später entwickelten sich aus diesem „Super-Ethnos“ die heutigen Russen, Ukrainer und Belarussen.

Ukrainische Rus?

In Russland ist dies bis heute die gängigste Lesart der Geschichte. In der benachbarten Ukraine aber distanzieren sich die Menschen immer mehr von ihren östlichen Nachbarn und damit auch von der gemeinsamen Geschichte. Auch die heutigen Historiker untermauern diese Tendenz. So heißt es nun, die Kiewer Rus sei eine Art Prototyp des ukrainischen Staates gewesen, schon allein weil vorrangig Ukrainer auf ihrem Territorium gelebt hätten. Die Prinzen und Fürsten seien alle Ukrainer gewesen, auch die Alte Rus selbst sei also nichts weiter als ein Vorfahre der Ukraine. Dafür wurde nun sogar der neue Termin „Ukraine-Rus“ eingeführt.

Einige behaupten gar, dass Russland absolut gar nichts mit der Geschichte der Kiewer Rus zu tun hätten. Dabei wird Russland als irgendein nordisches Land dargestellt, das erst Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden sei. Das kommt daher, dass die Hauptstadt der Rus ja später in Richtung Norden weiterzog – erst nach Wladimir, später nach Moskau.

Diese “Nordischen” werden als abgesonderte Gruppe von finno-ugrischer Herkunft  mit starken tatarischen Einflüssen, die im 13. Jahrhundert in deren Gebiete eingefallen waren, porträtiert – also völlig unabhängig von der slawischen Kiewer Rus. Dass die Tataren auch die Rus-Gebiete erreichten und auch die Menschen dort zu jahrelangen Abgabenzahlungen zwangen, wird dabei meist großzügig übergangen.

 „Die Russen stahlen uns unsere Geschichte!“

Im gleichen Atemzug werden die Russen oft beschuldigt, der Ukraine das Erbe der Kiewer Rus und damit einen Teil der nationalen Erinnerung gestohlen zu haben. Dabei kann man natürlich sagen, dass dies nur behauptet wird, um die Geschichte Kiews möglichst von Russland zu spalten.

Aber in einer besonders radikalen Auslegung provoziert diese Geschcihtsumschreibung auch immer wieder ganz reale Skandale: 2016 beispielsweise äußerte der ukrainische Präsident Petro Poroshenko offiziell seinen Ärger darüber, dass in Moskau „ihrem“ – also einem ukrainischen – Prinzen Wladimir ein Denkmal gebaut wurde. Dabei war Fürst Wladimir längst von der Russisch-Orthodoxen Kirche heiliggesprochen worden, weil er der Rus einst den christlichen Glauben brachte.

Ebenso empörte man sich in der Ukraine, als der russische Präsident Wladimir Putin eine Prinzessin der Kiewer Rus als „russische“ bezeichnete – was jedoch, in Anbetracht ihrer Lebensjahre – durchaus historisch richtig ist.

“Anti-ukrainische Geschichtsschreiber”

Dieses Narrativ, welches immer wieder historische Fakten ignoriert, die jedem bekannt sind, der die Geschichtsstunden der allgemeinbildenden Schulen nicht verschlafen hat, unterstützen glücklicherweise nicht alle Historiker in der Ukraine. Petro Tolotschko beispielsweise, der Chef des Archäologieinstitutes der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine in Kiew, veröffentlichte im letzten Jahre ein Buch über die Ursprünge der Alten Rus – das von ukrainischen Nationalisten buchstäblich zerrissen wurde. Tolotschko ist Anhänger der traditionellen Interpretation der Kiewer Rus als Wiege der drei slawischen Nationen. Dafür wurde er von ukrainischen Rechten als „Anti-Ukrainer“ beschimpft, der ihnen ihre Existenz abspreche.

Tolotschko hatte zuvor betont, dass man die Kiewer Rus nicht einfach zu einem rein ukrainischen Staat machen könne, da sie sich von den Karpaten im Westen bis zur Wolga im Osten erstreckte und ein bedeutender Teil ihres Territoriums heute russisch ist. Außerdem, so Tolotschko, sei es völlig falsch, die Geschichte von einem ihr inhärenten Territorium abzuspalten, das später zum Moskauer Staat wurde. Beide Länder hatten historisch lange Zeit gemeinsame Herrscherdynastien wie die Ruriks. Sie waren seit jeher immer nah verwandt. Zumal die damaligen Herrscher stets die Einheit der Rus betonten, was die alten Chroniken immer wieder in den Vordergrund stellen.

Die neue Mystifizierung der gemeinsamen Vergangenheit in der Geschichte macht Tolotschko große Sorgen - erst recht, da die ersten dieser verdrehten Erzählweisen bereits in Lehrbüchern für ukrainische Schüler zu finden seien.