Freikauf und Ersatzsoldaten: Wie man im zaristischen Russland den Militärdienst umging

Abschied von einem Rekruten, Ilja Repin, 1879

Abschied von einem Rekruten, Ilja Repin, 1879

Russian Museum
Junge russische Männer, die heutzutage Wehrdienst leisten, haben beispielsweise nicht das Recht, sich freizukaufen oder einen Ersatz zu suchen. Im zaristischen Russland, wo eine lebenslange Wehrpflicht üblich war, war das jedoch möglich.

Die Rekrutierung junger russischer Männer für den lebenslangen Wehrdienst wurde im zaristischen Russland im Jahr 1699 unter der Herrschaft von Peter dem Großen beschlossen. Ziel war es, ein solides Heer aufzubauen und es für die zahlreichen Feldzüge des Zaren nach und nach zu vergrößern. Während der Regierungszeit Nikolaus des Ersten wurde Ende des 19. Jahrhunderts schließlich die Möglichkeit, gegen Geld eine Ersatzperson zum Militär zu schicken, legalisiert, um dem Rekrutierungssystem neues Leben einzuhauchen.

Wehrpflichtregeln für Arm und Reich

Ferner wurden für die Wehrpflicht von armen und reichen Schichten unterschiedliche Regelungen getroffen. Während jeder adlige Mann Militärdienst leisten musste, gab es für die Stadtbewohner und Bauern, die, anders als die Aristokratie, eine direkte Kopfsteuer zahlten, eine spezielle Form der Rekrutierung. Die lokale Gemeinde wählte hierbei nur einige Männer im Alter von 20 bis 35 Jahren aus, die dann den Rest ihres Lebens in der Armee verbringen mussten.

Ein russischer Bojar im 16.–17. Jahrhundert

Der Staat war dabei in erster Linie an einer bestimmten Anzahl von zukünftigen Soldaten und deren körperlichen Fähigkeiten interessiert. Daher spielte es keine Rolle, nach welchen Kriterien die Gemeinde ihre Rekruten auswählte. Die Einberufung selbst wurde jedes Jahr per Sonderdekret bekannt gegeben und fand in Kriegszeiten sogar mehrmals im Jahr statt.

Auch wenn das nicht gerade nach einer privilegierten Situation für die Aristokratie klingt, wurden die geltenden Einberufungsbedingungen für den Adel recht schnell vereinfacht. Zunächst wurde nur einer von zwei Brüdern aus einer aristokratischen Familie zum Militärdienst berufen, anschließend wurde der Wehrdienst auf einen Zeitraum von 25 Jahren begrenzt. Im Jahr 1762 wurde der Adel schließlich vollständig von der Wehrpflicht befreit. Peter der Dritte hatte diese Entscheidung kurz nach seiner Thronbesteigung getroffen, um sich so seine Unterstützung zu sichern.

Für die Kopfsteuerzahler wurde der Wehrdienst ebenfalls auf 25 Jahre reduziert, allerdings erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts. In den 1830er Jahren wurde die Dienstzeit dann noch einmal um fünf Jahre gekürzt und betrug nur noch 20 Jahre. Es gab jedoch eine fünfjährige Freistellungszeit, in der man wieder einberufen werden konnte. Erst nach dem Ablauf der 20-jährigen Amtszeit galt der Militärdienst eines Soldaten als erfüllt und abgeschlossen.

Kleine Soldaten mit guten Zähnen

Aus der Unterschicht wurden vor allem Männer, die aus Großfamilien stammten, eingezogen. Die Idee dahinter war, nicht der wirtschaftlichen Situation der Stadtbewohner und der Bauern zu schaden, die den Großteil der Bevölkerung darstellten. Bei der Einziehung wurden die Rekruten untersucht und nach besonderen Kriterien ausgewählt. So musste ein Soldat zum Beispiel mindestens eineinhalb Meter groß sein, keine offensichtlichen körperlichen Defekte und gute Zähne haben, die zu der Zeit als Hauptindikator für gute Gesundheit galten.

Soldaten der Infanterie, 1720-1732

Wehrdienstleistende mussten sich zudem beim Armeeeintritt das Stirnhaar abrasieren, um im Falle einer Fahnenflucht leichter identifiziert und ausfindig gemacht zu werden. Diejenigen, die ausgemustert wurden, mussten sich ihrerseits das Nackenhaar abrasieren, um am Ende nicht irrtümlicherweise doch noch eingezogen zu werden.

Ebenso stand es den Soldaten frei, zu heiraten, wenn der Regimentbefehlshaber der Eheschließung zustimmte. Der Staat gewährte den Kindern und Witwen der Soldaten sogar einige Vorteile, sodass sich auch die Kinder der Soldaten sehr oft freiwillig für den Militärdienst meldeten, sobald sie das erforderliche Alter erreicht hatten.

Ersatzsoldaten

Dennoch war der langwierige Militärdienst in Russland nicht gerade beliebt und viele Männer versuchten, die Wehrpflicht zu umgehen. Eine legale Möglichkeit war seit dem Jahr 1831 unter anderem, eine andere Person an eigener Stelle zur Armee schicken.

Rekruten, 1816-1825

Dabei ging laut Dekret derjenige, der sich bereit erklärte, für einen anderen in der Armee zu dienen, als Freiwilliger zum Militär. Sein Austritt aus der Gemeinschaft sollte daher weder seine Pflichten gegenüber der Gemeinschaft noch gegenüber dem Staat negativ beeinflussen.

Die stolze Summe, die der Wehrdienstverweigerer dafür zahlen musste, betrug 500 bis 600 Silberrubel. Der „Ersatzsoldat“ erhielt dabei nicht den gesamten Betrag, sondern lediglich zwei Drittel der Summe.  

Scheinbar war diese Summe für die Freiwilligen jedoch nicht attraktiv genug, um den damit verbundenen, jahrzehntelangen Militärdienst in Kauf zu nehmen, und so gab es Mitte des 19. Jahrhunderts in der eine Million starken russischen Armee nur etwa 10 000 „Ersatzsoldaten“.

Sich vom Militärdienst freizukaufen war jedoch nicht die einzige Möglichkeit, ihm zu entgehen.  Mitte des 19. Jahrhunderts wurden beispielsweise fast sechs der 30 Millionen Männer, die ihre Steuern zahlten, von der Wehrpflicht befreit.

Rückkehr des Soldaten von Nikolai Newrew, 1869

Dazu gehörten Kaufleute, Ehrenbürger und Bewohner aus fernen Regionen, die kürzlich dem russischen Imperium beigetreten waren und mit dem Privileg, vom Militärdienst befreit zu sein, belohnt wurden. Somit kam Russland Mitte des 19. Jahrhunderts endgültig von der Idee eines universellen Wehrdienstes, der Peter dem Großen einst vorgeschwebte, ab.

Da Russland jedoch trotzdem ein großes Heer benötigte, das in Kriegszeiten flexibel erweitert oder wieder „aufgefüllt“ werden konnte, wurden im Jahr 1874 die Wehrdienstvorgaben geändert und den in Frankreich und Preußen geltenden Wehrdienstregeln angepasst. Die traditionelle Vorstellung des russischen Wehrdienstes mit seinen bezahlten „Ersatzsoldaten“ gehörte also der Vergangenheit an.

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