Wie Russland den deutschen Chemiewaffen im Ersten Weltkrieg trotzte

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Als Giftgas erstmals im Ersten Weltkrieg verwendet wurde, kostete es vielen Russen das Leben. Nachdem Deutschland begonnen hatte, Chlor auf dem Schlachtfeld einzusetzen, reagierte das Land schließlich mit dem Aufbau einer eigenen Chemieindustrie.

Zum ersten Mal versprühten die Deutschen Ende April 1915 auf einer sechs Kilometer langen Teilstrecke der Ieperlee-Front, die durch die Stadt Ypern verlief, rund 170 Tonnen Chlor. Sobald der Wind in die richtige Richtung wehte, also zu der französischen Armee, wurde aus 6 000 manuell geöffneten Zylindern Gas freigesetzt. Daraufhin wurden die Franzosen in gelbgrüne Chlorwolken gehüllt und zogen sich panisch zurück, schrieb Professor Michail Supotnizkij in seinem Buch „Der vergessene Chemische Krieg von 1915-1918“.

„Ein in dieser Wolke gefangener Mensch starb innerhalb weniger Minuten. Mit dem Einsatz von Chlor gelang es den deutschen Militärchemikern erstmals, die beiden Grundvoraussetzungen für den Erfolg eines chemischen Angriffs zu erfüllen – die Massenanwendbarkeit von Giftstoffen und die maximale Konzentration einer Gaswolke“, schreibt Supotnizkij.

Seiner Meinung nach hätte dieser Angriff den Ausgang des Krieges entscheiden können, wenn die Deutschen genug Ressourcen gehabt hätten, um die Frontlinie zu durchbrechen. „Aber die Ressourcen standen nicht zur Verfügung und der kleine taktische Erfolg der Deutschen am Fluss leperlee war ein Signal für den Beginn eines zerstörerischen Chemiekrieges“, fügt er hinzu.

Chemische Waffen gegen Russland

Chemische Waffen wurden an der russischen Front im Januar 1915 in Polen eingesetzt. Zu der Zeit war es sehr kalt und die Temperatur niedrig, sodass die russischen Truppen keine ernsthaften Verluste erlitten. Der erste groß angelegte chemische Angriff gegen die russische Armee fand am 31. Mai 1915 mit einem massiven Einsatz von Chlor statt. Da das Gebiet praktisch keine Waldflächen enthielt, drang die Chlorgaswolke zu den Reihen der russischen Truppen vor und behielt ihre tödliche Wirkung im Umkreis von mindestens zehn Kilometern bei.

Die Erfahrungen aus Ypern gaben Deutschland Anlass zu der Annahme, dass der Sieg über die russische Armee schon sicher sei. „Doch die Ausdauer der russischen Soldaten und die gute Organisation der Verteidigung ermöglichten es dem russischen Oberkommando, elf deutsche Versuche einer nach dem Gasangriff unternommenen Offensive abzuwehren. Die Opferzahl des Giftgasangriffes lag insgesamt bei 9 036 Soldaten und Offizieren, von denen letztendlich 1 183 starben. „Am gleichen Tag verloren die Deutschen nur 116 Soldaten“, schreibt der Militärwissenschaftler und erste russische Chemiewaffenhistoriker, Alexander De Lazari, in seinem Buch „Chemische Waffen an den Fronten des Ersten Weltkrieges 1914-1918“.

Das Ungleichgewicht bei den Verlusten veranlasste die zaristische Regierung Russlands schließlich dazu, sich am Einsatz von chemischen Waffen im Krieg zu beteiligen und eigene zu produzieren.

Chlor für den Zaren

In einem Telegramm an den Kriegsminister am Tag nach dem Angriff drängte der russische General Januschkewitsch den Minister dazu, die Armee endlich mit chemischen Waffen auszurüsten. Diese Aufgabe erwies sich jedoch zunächst als schwierig, da der Großteil der russischen Chemieindustrie den Deutschen gehörte. Deutsche Industrielle hatten bereits lange vor dem Krieg dafür gesorgt, dass ihre Unternehmen von den Russen nicht für militärische Zwecke genutzt werden konnten. Während des Krieges wurden sie vollständig geschlossen.

Nach dem verheerenden Gasangriff am 31. Mai folgten weitere chemische Angriffe auf die russische Armee. Die Deutschen setzten dabei vor allem auf Gasentladungen und den Beschuss mit chemischen Geschossen.

Russland führte die Produktion chemischer Waffen davon unabhängig durch und begann mit seiner Chlorherstellung in Samara, Rubeschnoje, Saratow und der Provinz Wjatka. Im August 1915 wurden die ersten zwei Tonnen flüssiges Chlor produziert, im Oktober entstanden die ersten Einheiten zur Durchführung von Angriffen mit Gaswolken.

Supotnizkij zeigt sich von der Arbeit der russischen Militärchemiker beeindruckt. „Sie fingen bei null an, ohne Petrodollar und Unterstützung aus dem Westen. Nichtsdestotrotz gelang es ihnen innerhalb von zwölf Monaten, eine militärische Chemieindustrie zu schaffen, die die russische Armee mit verschiedenen Arten von chemischen Kampfstoffen, chemischer Munition und persönlicher Schutzausrüstung versorgte“, erklärt er.

Neue russische Waffen

Während der Schlacht am Naratsch-See im März 1916 setzte Russland erstmals Chemiewaffen gegen seine Kriegsgegner ein. Die Offensive fand auf Wunsch der Alliierten statt, um Deutschland von der Schlacht um Verdun abzulenken, und kostete insgesamt 80 000 Russen das Leben. Die russischen Befehlshaber betrachteten die chemischen Kampfstoffe bei dieser Operation indessen als Hilfsmittel, deren Wirkungsweise noch untersucht werden musste, weshalb das Militär keine Schutzausrüstung wie Gasmasken oder Handschuhe benutzte.

Bis Ende des Jahres 1916 hatten die russischen Truppen den Einsatz von chemischen Waffen vollständig erlernt und erhielten nun Gasmasken. Ein Wellenangriff, der am 7. Januar 1917 von den Deutschen gegen die russische Nordfront gestartet wurde, führte durch den rechtzeitigen Einsatz von Gasmasken und verbesserter Handhabung durch die Soldaten daher nicht zu Verlusten auf Seiten der russischen Truppen. Der letzte russische Gasangriff, der am 26. Januar 1917 unweit von Riga durchgeführt wurde, endete für die deutsche Armee auf die gleiche Art und Weise – auch sie waren auf die Gasangriffe vorbereitet. Ein Patt entstand.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde sich die internationale Gemeinschaft der schrecklichen Kraft und der verheerenden Auswirkungen der Chemiewaffen bewusst. Sie wurden auf die Liste der Massenvernichtungswaffen gesetzt und gegen Ende des 20. Jahrhunderts per Entscheid des Internationalen Gerichtshofs verboten. Darüber hinaus wurde ein Chemiewaffenübereinkommen abgeschlossen, das von vielen Ländern, einschließlich Russland, unterzeichnet wurde.

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