Im Dezember 1976 fand am Züricher Flughafen eine ungewöhnliche Zusammenkunft statt. Mit Unterstützung der USA tauschten Chile und die UdSSR zwei Gefangene aus. Luis Alberto Corvalán, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chiles, der unter Augusto Pinochet verhaftet worden war, flog nach Moskau. Wladimir Bukowski, ein 35-jähriger Häftling aus dem Zentralgefängnis von Wladimir, reiste in den Westen. Corvalán war ein prominenter kommunistischer Politiker. Bukowski schien dagegen nur ein gewöhnlicher Gefangener zu sein, der in den sowjetischen Medien als „Rüpel” bezeichnet wurde.
Wladimir Bukowski wurde als Sohn zweier sowjetischer Journalisten geboren. Er stand dem Sowjetsystem von Jugend an kritisch gegenüber, was in der UdSSR zwangsläufig zu Problemen führte. 1960 übte Bukowski in einem Artikel harte Kritik am Komsomol, der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. „Der Komsomol ist tot. Der einbalsamierte Leichnam lebte noch viel zu lange weiter …”, schrieb er. Er forderte eine Demokratisierung des Komsomol. Die Behörden antworteten mit Repressionen.
Die psychiatrische Klinik, in der Wladimir Bukowski untergebracht wurde.
Pavel Markin/Global Look Press1962 erhielt Bukowski die Diagnose „schleppend verlaufende Schizophrenie”, ein Krankheitsbild, das in den 1960er Jahren vom sowjetischen Psychiater Andrej Sneschnewski erstmals beschrieben wurde. Die tatsächliche Existenz der Krankheit war in vielen Ländern umstritten. Doch für den KGB war es praktisch. So konnte jemand als psychisch krank bezeichnet werden, selbst wenn Krankheitsmerkmale gar nicht vorhanden waren. Das Fehlen der für Schizophrenie typischen Symptome wurde laut dem russischen kulturhistorischen Projekt Arzamas durch das langsame Fortschreiten der Krankheit erklärt. Die Pathologisierung von Dissidenten war ein Instrument der sowjetischen Strafpsychiatrie. Dieses Phänomen offenbarte Bukowski später der Weltöffentlichkeit.
Bukowski verbrachte den größten Teil der 1960er Jahre hinter Gittern. In dieser Zeit erhielt er verschiedene psychiatrische Diagnosen. Mal galt er als geisteskrank, mal nicht. Er wurde in Heilanstalten untergebracht (1963 und 1965) oder in Gefangenenlagern (1967).
Nach der Freilassung im Jahr 1976
vladimirbukovsky.comDie Zustände in den psychiatrischen Anstalten der Sowjetunion beschrieb Bukowski in seinen Memoiren als furchtbar. Die Patienten wurden unter Drogen gesetzt, manchmal geschlagen oder sogar gefoltert und in Zellen mit psychisch Kranken, die gefährlich waren, untergebracht.
Bukowski wurde 1969 entlassen. Andere Dissidenten wurden ebenfalls für psychisch krank erklärt und weggesperrt. „Es waren vermutlich sechs Personen [die in Anstalten untergebracht waren]. Ich habe erkannt, dass es ein ausgeklügeltes Strafpsychiatrie-System gab. Es musste etwas passieren”, sagte Bukowski in einem Interview.
Bukowski und US-Präsident Jimmy Carter, 1977
vladimirbukovsky.comEr traf sich heimlich mit dem US-amerikanischen CBS-Journalisten William Cole und gab ein Live-Interview über die Inhaftierung von Dissidenten unter dem Vorwand von Geisteskrankheiten. Er schaffte es auch, verschiedene Dokumente in den Westen zu schmuggeln.
1971 verhafteten die sowjetischen Behörden Bukowski erneut. Er wurde wegen antisowjetischer Agitation verurteilt. Sieben Jahre saß er im Gefängnis, bis er gegen Corvalán ausgetauscht wurde. Im Jahr 1976 galt er im Westen als einer der bekanntesten Dissidenten und herausragender Menschenrechtsaktivist.
Bukowski ließ sich in Großbritannien nieder, machte seinen Master in Biologie an der Universität Cambridge und verfasste mehrere Bücher, darunter seine Memoiren „To Build a castle: My life as a dissenter” (erschienen in englischer Sprache, 1979, deutsch „Ein Schloss bauen: Mein Leben als Andersdenkender“).
Bukowski in Moskau, 2007
APAuch als Emigrant blieb er einer der schärfsten Kritiker der UdSSR und ihrer Politik. Als die Sowjetunion auseinanderfiel, forderte Bukowski ein Tribunal vergleichbar den Nürnberger Prozessen, um den Kommunismus öffentlich anzuprangern. Er kritisierte auch weiterhin die neuen russischen Führer, zuerst Boris Jelzin, dann Wladimir Putin.
2015 rückte Bukowski erneut ins Rampenlicht, diesmal jedoch nicht als Menschenrechtsaktivist oder Buchautor. Der frühere Dissident wurde des Besitzes von Kinderpornografie beschuldigt. Bukowski hielt dies für eine Verleumdungskampagne. Er klagte seinerseits dagegen, doch die Klage wurde abgewiesen. Bukowski beteuerte seine Unschuld.
„Ich habe keine Angst davor, ins Gefängnis zu müssen. Ich habe bereits zwölf Jahre in sowjetischen Gefängnissen verbracht. Ich rechne nicht mit einem langen Leben. Es ist mir egal, ob ich auch die letzten Wochen davon im Gefängnis verbringe”, sagte er.
Der Prozess gegen Bukowski wurde wegen seines schlechten Gesundheitszustandes immer wieder auf unbestimmte Zeit verschoben und fand letztlich nie statt. Bukowski litt unter verschiedenen Krankheiten. Am 27. Oktober 2019 starb der Dissident in Cambridge an einem Herzinfarkt. Er nimmt seine Verdienste, aber auch den Skandal mit ins Grab.
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