Die Revolution von 1917 in Russland und das anschließende Bürgerkriegschaos gaben den ausländischen Mächten die Möglichkeit, sich offen in die inneren Angelegenheiten Russlands einzumischen. Großbritannien wurde zu einem der wichtigsten Akteure in der russischen Arena. Die Briten entsandten ein Expeditionskorps ins Land und sicherten den antibolschewistischen Kräften, den sogenannten Weißen, Unterstützung zu.
Tatsächlich verfolgten die Briten das Ziel, den Konflikt zu verlängern, einen ihrer wichtigsten geopolitischen Rivalen zu schwächen und zu zerstören, indem das „vereinte und unteilbare“ Russland in einem Bürgerkrieg aufgerieben werden sollte.
Oberbefehlshaber der Streitkräfte Südrusslands Anton Denikin und der britische Major-General Frederick Poole, 1918
ArchivfotoDie britische Hilfe für die Weißen erwies sich als eher bescheiden und unzureichend im Kampf gegen die Rote Armee. Doch auch diese wenige Unterstützung endete 1919, nachdem in Großbritannien immer mehr Stimmen laut wurden, die Zweifel am Nutzen einer Verwicklung in das russische Abenteuer und am Engagement britischer Soldaten in einem kalten und fernen Land hatten.
Der britische Premierminister David Lloyd George beteiligte sich aktiv an dieser Debatte. Am 16. April 1919 hielt er vor dem Unterhaus eine leidenschaftliche Rede, in der er sagte, Großbritannien könne seinen Verbündeten nach allem, was die Russen für die Briten getan hätten, nicht seinem Schicksal überlassen.
David Lloyd George
Library of CongressDie Weiße Armee sei mit Unterstützung der Alliierten geschaffen worden, um die Deutschen zu bekämpfen. Es sei einer großen Nation völlig unwürdig, dieser nun zu sagen, „Danke, wir sind Ihnen außerordentlich verpflichtet. Sie waren unserer Sache dienlich, aber wir brauchen Sie nicht länger. Nun können Sie sich von den Bolschewisten die Kehlen durchschneiden lassen.“ (James Ramsey Ullman, Anglo-Soviet Relations, 1917-1921, Volume 2: Britain and the Russian Civil War. Princeton: 1968, nicht auf Deutsch erschienen).
Lloyd George bestand darauf, dass die britische Regierung weiterhin „General Denikin, Admiral Koltschak und General Charkow“ unterstütze. Er erwähnte insbesondere die Verdienste und Heldentaten des Letzteren. Doch innerhalb der Bewegung der Weißen existierte kein General Charkow.
Der britische Politiker hat womöglich eine Person mit der gleichnamigen Stadt in der Ukraine verwechselt. Es könnte auch sein, dass er von Don-Kosaken-Führer Ataman Pjotr Krasnow sprach. Dieser war jedoch ein Verbündeter der Deutschen und erhielt keine Unterstützung von den Alliierten.
Der vom Premierminister so gepriesene General Charkow wurde schlagartig zu einer Berühmtheit in Europa. Britische und französische Zeitungen waren voller Bewunderung, ein Lied wurde ihm zu Ehren geschrieben. Ein Café, ein Rasierapparat, ein Bier, eine Kaffeespezialität sowie Hosenträger und ein Damenhut trugen plötzlich seinen Namen.
George V.
Library of CongressDer Höhepunkt der Popularität des vermeintlichen Generals Charkow wurde erreicht, als ihm der britische König George V. den Orden vom Heiligen Michael und Georg „für Verdienste im Kampf gegen den Bolschewismus als Weltverbrechen“ sowie den Titel eines „Sir“ verlieh.
Als am 31. August 1919 eine britische Delegation mit der Auszeichnung im Hauptquartier des Oberbefehlshabers der Streitkräfte Südrusslands (AFSR), Anton Denikin, eintraf, stellte sich heraus, dass dort noch nie jemand von General Charkow gehört hatte.
Nachdem den Briten erklärt worden war, dass Charkow eine Stadt sei, beschlossen sie, dort nach ihrem Helden zu suchen. Die Stadt war kurz zuvor von der Roten Armee zurückerobert worden. Schließlich erkannten die Briten, dass sie ein Phantom suchten.
Generalleutnant Wladimir Mai-Majewski
gemeinfreiDie Auszeichnung ging statt an den fiktiven General Charkow nun an Generalleutnant Wladimir Mai-Majewski, Kommandeur der Freiwilligenarmee (die Teil der AFSR war), der zu dieser Zeit an einem Marsch gegen Moskau teilnahm, dem letzten Versuch der Weißen, die Bolschewiki zu besiegen.
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