Es waren einmal Millionen junger Pioniere in roten Halstüchern. Überall in den Ländern der UdSSR versammelten sich junge Menschen an Feiertagen, um an Paraden teilzunehmen, und erwiesen Wladimir Lenins Bild auf einem Banner die Ehre.
Die Pioniere wurden von der Kommunistischen Partei großzügig unterstützt und gründeten ihre eigene Unterorganisationen. Sie halfen ehemaligen und neuen Kameraden, pflanzten Bäume und sammelten Altpapier.
1961 entstand in der russischen Stadt Archangelsk das Hauptquartier der Arkadi Gaidar Archangelsker Schüler (abgekürzt AGSchSch bzw. АГШШ in kyrillischen Buchstaben). Es sollte eine der ältesten und beständigsten russischen Jugendorganisationen werden, die auch heute noch aktiv ist und großes Potenzial hat.
Die jungen Enthusiasten aus Archangelsk waren inspiriert von den Protagonisten in Arkadi Gaidars Werk „Timur und sein Trupp“. Die Initiative der jungen Leute war in Zielen und Symbolen vergleichbar mit den Pionieren, doch in der Umsetzung unterschieden sie sich sehr. Zu dem Zeitpunkt, als in Archangelsk die neue Bewegung entstand, gab es die Pionierorganisation Wladimir Iljitsch Lenin schon 40 Jahre. Sie existierte bereits seit den 1920er Jahren.
Im Laufe ihrer Geschichte schlossen sich Millionen von sowjetischen Schulkindern den Pionieren an und sie wurden als kommunistisch gesinnte und politisch engagierte Bürger, denen das Wohl des Staates wichtig war, herangezogen.
Die Ideologie der Pionierbewegung war der Kommunismus, doch formal und strukturell waren die Pioniere der Sowjetunion vergleichbar mit den Pfadfindern im alten Russland und im Westen.
Die Jugendlichen aus Archangelsk hatten etwas anderes im Sinn. Sie orientierten sich an den Ideen des sowjetischen Bildungstheoretikers und Gründers sozialpädagogischer Jugendgruppen Igor Iwanow. Iwanow propagierte gegenseitige Fürsorge und Respekt und kreative Taten zum Wohle der Gemeinschaft.
Jenseits des Kommunismus
Die jungen Enthusiasten aus Archangelsk gründeten also eine eigene Organisation und nannten sich „Kommunarden“ - inspiriert von Iwanows Kommunen.
Ein wesentlicher Unterschied zur pro-kommunistischen Pionierorganisation bestand darin, dass die Kommunarden ihren Mitgliedern keine strengen ideologischen Regeln auferlegten, sondern die Kreativität, Entwicklung und freie Meinungsbildung förderten.
Die alltäglichen Aktivitäten der „АГШШ“ waren vergleichbar mit denen der Pioniere. Beide Organisationen wollten junge Menschen für universelle moralische Ideale begeistern und verpflichteten ihre Anhänger zu wohltätigem Handeln in ihren Städten und Regionen. Wieder waren Arkadi Gaidars Romanhelden das Vorbild.
Diese Ähnlichkeit der Archangelsker Bewegung mit der bedeutendsten Pionierbewegung der UdSSR sicherte ihr Überleben in einer von Ideologie geprägten Zeit, in der Abweichungen sehr kritisch betrachtet wurden.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 verschwanden auch fast alle bekannten Pionierbewegungen. Die Bewegung aus Archangelsk hingegen überlebte und hält sich bis heute an die althergebrachten Traditionen.
Seit Mitte der 1960er Jahre versammeln sich jeden Juli an den Ufern der Dwina in der Nähe von Archangelsk ohne politische Intention Jugendliche aus Archangelsk und andere Aktivisten und verbringen 21 Tage lang in einem Sommercamp. Dort schaffen sie sich eine kleine, ideale Welt.
Das Camp organisieren sie ganz ohne die Hilfe von Erwachsenen. Sie bauen eine Verpflegungsstation und Zelte auf. Sie kochen und stellen ein Unterhaltungsprogramm auf die Beine. Bei der Einrichtung des Sommercamps orientieren sich die jungen Leute an vielen Traditionen aus früheren Pionierlagern der Gewerkschaften.
Welche Aktivitäten finden heute statt?
Die Teilnehmer eines Sommercamps teilen sich in vier Gruppen auf. Jede trägt ein in einer anderen Farbe kariertes Hemd und wählt ihren Gruppenleiter, üblicherweise ein erfahreneres Mitglied der Organisation.
Die Uniform besteht aus einer rotgrauen Jacke und einem roten Hut (Budenowka), ähnlich denen, die die Roten während des russischen Bürgerkriegs (1917-1922) trugen. Die militärischen oder kommunistischen Implikationen dieser Uniform sind längst vorbei, weil sie ihre eigene unpolitische Ideologie geschaffen haben.
Menschen in weißen Jacken sind Gruppenleiter, die älteren Mitglieder der Organisation, die ihren jüngeren Kameraden helfen, ihre Aktivitäten zu organisieren. Jeden Tag kocht eine der Gruppen abwechselnd für alle, während andere Camp-Teilnehmer sich an Unterhaltungs- oder Bildungsaktivitäten beteiligen.
Diese Jugendbewegung hat die jungen Pioniere, die mit der Sowjetunion untergegangen sind, lange überlebt. Der Traum der Gründungsmitglieder lebt weiter.