Wie deutsche Truppen selbst nach dem Fall Berlins noch kleine Teile der Sowjetunion kontrollierten

Geschichte
BORIS JEGOROW
Ein kleines Stück Land im Westen Lettlands wurde selbst nach der Kapitulation des Dritten Reiches noch von deutschen Truppen kontrolliert. Sowjetsoldaten nannten es scherzhaft „Lager für bewaffnete Kriegsgefangene“.

Am Nachmittag des 25. April 1945 hatten Truppen der Roten Armee Berlin komplett eingekesselt. Sie bereiteten sich nun auf den entscheidenden Angriff auf die Hauptstadt Nazi-Deutschlands vor. Zuvor hatten sie bereits Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn sowie große Teile von Jugoslawien, Österreich und Norwegen vom Faschismus befreit. Ausgerechnet in der Sowjetunion selbst war jedoch noch ein kleiner Landstrich unter der Herrschaft der Nazis. 

Freilich waren die anfangs rund 400.000 Soldaten der deutschen Heeresgruppe Nord in Kurland (westliches Lettland) bereits eingekesselt, seit die 51. Sowjetische Armee am 10. Oktober 1944 die Ostseestadt Klaipeda (früher Memel) eingenommen hatte. Aber da die Wehrmacht noch die Häfen von Liepaja und Ventspils kontrollierte und die sowjetische Ostseeflotte nicht die Möglichkeiten hatte, die Versorgung Kurlands zu unterbinden, blieb die deutsche Herrschaft über den Landstrich bis Kriegsende bestehen. 

Erschwert wurde die Eroberung Kurlands für die Sowjets durch die geographischen Gegebenheiten. „Kurland ist sehr sumpfig. Um durch das Gelände zu kommen, mussten wir zunächst einen geeigneten Weg bauen. Manchmal blieben sogar unsere Mörser im Sumpf stecken. Dann mussten wir die Munition rausnehmen und das Gerät auf einer Holzkonstruktion neu aufbauen.“ erinnerte sich Peter Küpersepp vom 8. Estnischen Schützenkorps der Roten Armee.  

So wurden die sowjetischen Angriffe in die Länge gezogen, wodurch die Wehrmacht Zeit gewann, die Kontrolle über Kurland zu festigen. Auf der mit 220 Kilometern relativ kurzen Frontlinie errichtete man ein immenses Verteidigungssystem mit Stacheldraht, Panzersperren und Minenfeldern. Küpersepps Kamerad Michail Saltykow berichtete, „der komplette Kurland-Kessel war voll von Verteidigungsanlagen. Kaum hatten wir eine davon überwunden, tauchte die Nächste auf.“ 

Dazu kam, dass die Nazis die Festung Kurland um jeden Preis verteidigen wollten. Der Kommandant der Heeresgruppe Nord, Ferdinand Schörner, war ein überzeugter Nationalsozialist, der bis zuletzt an den Endsieg glaubte. Daher verbot er seinen Soldaten auch, von einer Einkesselung zu sprechen - der offizielle Begriff war „Festung Kurland“. Hitler sah Kurland als Möglichkeit, die sowjetischen Truppen abzulenken, Soldaten und Ressourcen zu binden und so ihren Vormarsch nach Westen aufzuhalten. 

Nachdem sich die Rote Armee tatsächlich die Zähne an Kurland ausbiss (trotz massiven Aufwands und großer Verluste konnte man die Wehrmacht maximal um ein paar Kilometer zurückdrängen), entschied man sich im März 1945 zu einem Kurswechsel:  Man ignorierte Kurland fortan und zog direkt in Richtung Berlin. Die Heeresgruppe Nord (ab 25. Januar 1945: Heeresgruppe Kurland) betrachtete man einfach als „bewaffnete Kriegsgefangene in einem sehr großen Lager“. 

Dadurch, dass das Dritte Reich nun immer mehr wichtige Industriestädte verlor, kam es zunehmend zu Versorgungs- und Kommunikationsschwierigkeiten in Kurland. Die sowjetische Marine intensivierte ihre Aktivität und machte die Kommunikation zwischen dem Reich und Kurland immer schwieriger. Auch die Evakuierung der eingekesselten Soldaten war nicht mehr möglich. 

Am 9. Mai 1945 kapitulierte die Wehrmacht schließlich. Auch in Kurland ergab sich General Carl Hilpert. „Die Deutschen waren die Ersten, von denen wir erfuhren, dass der Krieg vorbei war. Wir arbeiteten uns entlang des Ufers vor und verstanden nicht, warum die Deutschen jubelten. Es gab sogar Feuerwerke. Irgendwann realisierten wir dann, dass der Krieg vorbei war. Erst später erhielten wir den Befehl, die Operation abzubrechen“, erinnerte sich der Marineinfanterist Pawel Klimkow. 

Insgesamt gerieten 42 deutsche Generäle und 189.000 Soldaten in Kriegsgefangenschaft. Viele Tausend konnten über die Häfen von Liepaja und Ventspils nach Deutschland flüchten. 

Einige weigerten sich jedoch, ihre Waffen niederzulegen. Am 22. Mai wurde eine rund 300 Mann starke Gruppe von SS-Soldaten beim Versuch, nach Ostpreußen zu flüchten, komplett ausgelöscht. Ihr Anführer, Obergruppenführer Walter Krüger, erschoss sich inmitten der Kämpfe selbst. 

Die lettischen Kollaborateure in Kurland, hauptsächlich die aus der 2. Lettischen Division der Waffen-SS, versteckten sich im Wald und setzten ihren Kampf gegen die Sowjetunion teils bis in die 50er-Jahre fort.