„Jeder soll sein eigenes Lehen haben“
Die russischen Gebiete vor der mongolisch-tatarischen Invasion ähnelten politisch dem mittelalterlichen Europa. Die wichtigste Form des Landbesitzes war dieWótschina. Sie war der unveräußerliche Besitz einer Adelsfamilie und wurde vererbt.
Die Wótschinas durften nicht verkauft, geteilt oder getauscht werden; im Falle eines Verstoßes gegen diese Regeln wurden sie dem Eigentümer entzogen und einem anderen Familienmitglied übertragen. Wótschinas waren erbliche Besitztümer russischer Fürsten. Der Grundbesitz der Bojaren war ebenfalls erblich.
Bojaren waren Vertreter der alten Familien, die den Fürsten in Kriegs- und Friedenszeiten dienten. Die Bojaren waren die absoluten Herren ihrer Wótschinas. Auf ihren Territorien lebten Bauern und Handwerker, die für den Bojaren arbeiteten und ihn bezahlten – als Gegenleistung für dessen Schutz.
Bojaren konnten auch Verwaltungsaufgaben wahrnehmen – so konnte der Fürst beispielsweise einen Bojaren zum Woiwoden einer untergebenen Stadt ernennen und der Bojar war in diesem Fall für das Eintreiben der Steuern, die Rechtsprechung, die militärische Versorgung der Stadt usw. zuständig. Gleichzeitig konnte der Bojar frei wählen, welchem Fürsten er dienen wollte. Der Bojar, dessenWótschina sich in einem Fürstenlehen befand, konnte abwandern, um einem anderen Fürsten zu dienen, behielt dabei aber seine eigene Wótschina und dessen Bevölkerung. So war es vor der mongolisch-tatarischen Invasion, die die Rolle und Stellung der Bojaren erheblich verändern sollte.
Wie und warum die Bojaren gezählt wurden
Als das mongolische Heer auf russischem Boden auftauchte, befehdeten sich die russischen Fürsten weiter und konnten sich angesichts des gemeinsamen Feindes, der Mongolen, nicht zu einem einzigen Heer zusammenschließen, was dem Feind in die Hände spielte.
Im 15. Jahrhundert hatte die Situation sich bereits geändert – die Goldene Horde selbst war zerfallen und die russischen Fürsten waren gezwungen, ihre Kräfte zu vereinen, um keine Tribute mehr zahlen zu müssen. Dies betraf auch die Bojaren – es wurde begonnen, sie mithilfe der „Bojarenbücher“ zu zählen. Diese wurden von der zentralen Behörde der russischen Länder in Moskau erstellt und verzeichnete Namen, Dienststellung und Funktion der Bojaren in den verschiedenen Fürstentümern.
Zu diesem Zeitpunkt begann die Schicht der Bojaren bereits auseinanderzufallen: So entstanden die so genannten путныебояре (vom Wort путь, dt.: Weg, das heißt, Geschäftsbereich, Wirtschaft). Der Bett-Bojar mit dem Weg zum Beispiel war derjenige, der nach dem Erwachen des Fürsten als erster zu ihm kam und ihm die neuesten Nachrichten mitteilte – eine wichtige und sehr einflussreiche Position. Der Stall-Bojar mit dem Weg kümmerte sich um alle Fragen der Versorgung, der Fütterung und der Ausbildung der fürstlichen Pferde und so weiter.
Diese Buchführung war notwendig, weil mit der Zentralisierung des Staates die Zahl der Bojaren zunahm. Viele der ehemaligen Lehensfürsten traten in den Dienst des Großfürsten von Moskau und wurden dessen Bojaren. Um den Fürst herum bildete sich ein Regierungsgremium – die Bojaren-Duma, die die öffentlichen Fragen löste.
Um das 14. und 15. Jahrhundert entstand eine weitere Abspaltung der Bojaren – die eingeführten Bojaren (d. h. die an den Hof geholten Mitglieder der Bojaren-Duma) nahmen eine höhere Position am Zarenhof ein.
Die Bojaren, die nicht in die Duma eingeführt worden waren, wurden als Dienst-Bojaren bezeichnet – sie nahmen an Kriegszügen teil, führten Truppen an, wurden als Statthalter in Städten eingesetzt, waren aber nicht in der Duma vertreten. Die wichtigste Veränderung, die die russischen Bojaren erfuhren, war jedoch die Änderung des Status ihres Grundbesitzes.
Der Zar gegen die Bojaren
Die Rolle der Bojaren nahm mit dem wachsenden Einfluss Moskaus zu. Die Bojaren besaßen ihre Wótschinas und waren nicht bereit, ihre Unabhängigkeit aufzugeben. Sie waren ständig in engstirnige Streitigkeiten verwickelt, indem sie sich zum Beispiel weigerten, an Feldzügen teilzunehmen, wenn ihre Position in der Armee schlechter war als die ihrer Väter.
Iwan der Schreckliche, der erste Zar von Moskau, begann einen gezielten Kampf gegen die Bojaren. Das Hauptziel war die gewaltsame Entfremdung der Bojaren von ihren Ländereien. Im Jahr 1562 erließ der Zar einen Ukas, der den Bojaren in seinen Diensten unter Androhung der Konfiskation verbot, ihre Wótschina zu verkaufen, zu tauschen oder als Mitgift zu geben – gab es keinen direkten männlichen Erben, sollte die Wótschina an den Zaren übertragen werden. So flohen die Bojaren aus dem Moskauer Reich. Wer bei der Flucht erwischt wurde, wurde verbannt, gezüchtigt oder hingerichtet.
In Wirklichkeit handelte es sich um eine umfassende Unterdrückung des Bojarenstandes. Die Bojaren-Familien wurden ruiniert und in andere Ländereien umgesiedelt. Darunter litten auch die einfachen Bauern, die von den Ländereien der verarmten oder hingerichteten Bojaren flohen.
Das Ergebnis dieser gegen die Bojaren gerichteten Politik Iwans des Schrecklichen war in der Tat die Verarmung des Staates – vor allem dadurch, dass mehr als die Hälfte des Ackerlandes jahrelang unbewirtschaftet blieb.
Der letzte Bojar
Im 15. Jahrhundert, unter den ersten Romanows, versammelte die Bojaren-Duma sich ständig und keine Entscheidung wurde ohne sie getroffen. Was konnte der Zar der Macht des alten Adels entgegensetzen?
Der Großvater Iwans des Schrecklichen, Großfürst Iwan III. von Moskau, erfand ein „Rezept“ gegen den Adel. Mit seinem Gesetzbuch von 1497 legte er den Grundstein für die Gutswirtschaft. Im Gegensatz zu den Wótschinas, die den Bojaren aufgrund ihres Geburtsrechts gehörten, vergab der Moskauer Herrscher Ländereien an seine Bediensteten als Lohn für ihre Dienste und als Einkommensquelle.
Im Gegensatz zu den Wótschinas konnten diese Güter auf Lebenszeit oder für die Dauer des Dienstes verlehnt werden, d.h. sie konnten vererbt oder aber nach dem Tod des „Dieners“ an den Herrscher zurückgegeben werden. Im 15. und 16. Jahrhundert waren die Ländereien nur insoweit Eigentum der Grundherren, als sie dem Herrscher dienten. Dank der massiven Vergabe von Ländereien, die unter Iwan III. begann, entwickelte sich im Moskauer Reich ein „Gutsheer“. Während der Status der alten Bojaren mit ihren Wótschinas eher dem der europäischen Feudalherren entsprach, die Vasallen ihres Lehnsherrn waren, waren die Landadligen weit weniger unabhängig und sie konnten ihren Besitz über Nacht verlieren, wenn sie mit der Zentralregierung in Konflikt gerieten.
Das von Iwan III. eingeführte System des Grundbesitzes erwies sich Ende des 17. Jahrhunderts als nützlich und auf dieser Grundlage baute Peter der Große eine neue russische Armee auf. Nun wurden die Grundbesitzer und nicht mehr die Bojaren zu den Vertretern der Regierung bei der Erhebung von Steuern, der Verwaltung des Landes und vor allem bei der Rekrutierung von Soldaten aus den Reihen der Bauern. Wichtig war auch, dass der durchschnittliche Grundherr im Gegensatz zu einem Bojaren sehr arm war – nicht alle Güter konnten ihre Besitzer ernähren und diese waren gezwungen, in den Militär- oder Staatsdienst einzutreten, um eine Vergütung zu erhalten.
Im Jahr 1714 verlieh Peter der Wótschina und dem Lehnsgut schließlich den gleichen Status. Laut Ukas durften diese Güter vererbt, nicht aber unter den Nachkommen aufgeteilt oder verkauft werden. Da das Erbe nur auf einen der Söhne übertragen werden konnte, mussten alle anderen Nachkommen für ihren Unterhalt in den Staatsdienst gehen.
Der letzte Bojar von Russland war Fürst Iwan Trubezkoj, der 1750 starb. Er verband den Bojarentitel mit den von Peter eingeführten militärischen Rängen und den Funktionen eines Senators – unter Peter löste der Regierende Senat schließlich die Bojaren-Duma als Regierung des russischen Staates ab.