Wie Fabrik-Kantinen die sowjetischen Frauen vom „langweiligen“ Kochen befreiten

Geschichte
MARIA AFONINA
In den späten 1920er und 1930er Jahren erlebte die UdSSR einen Boom beim Bau von Fabrik-Kantinen. Es wurde alles getan, um den weiblichen Mitarbeitern das Leben zu erleichtern und die Männer vom Alkoholmissbrauch abzuhalten.

In den 1920er Jahren schlug die sowjetische Regierung einen Kurs in Richtung Industrialisierung ein. Die neuen Fabriken erforderten eine große Zahl von Arbeitskräften, darunter auch Frauen. Um eine zentrale Verpflegung einzurichten und die Arbeiterinnen vom Kochen zu Hause zu befreien, wurde das Projekt der Fabrik-Kantinen ins Leben gerufen. Darüber hinaus kämpfte die Staatsführung mit dem Problem der Trunkenheit und war der Ansicht, dass die Mitarbeiter weniger Zeit zu Hause und mehr Zeit bei der Arbeit und sogar in der Freizeit mit anderen Arbeitnehmern verbringen sollten – und das am besten in den Fabrik-Kantinen (auch als Fabrik-Küchen bezeichnet). 

So wurde die Fabrik-Kantine zu einem Ort, an dem man essen gehen, Speisen zum Mitnehmen kaufen und kultiviert die Freizeit verbringen konnte – in den Gebäuden waren Kaufhäuser, Postämter, Apotheken, Fitnessstudios und Bibliotheken untergebracht.

Der Kanon des Baus von Gastronomiepalästen

Zunächst wurden die Fabrik-Kantinen in bereits vorhandenen Gebäuden untergebracht, doch schon bald wurde ein Bauprogramm zur Errichtung eigens dafür vorgesehener Gebäude entwickelt. Es handelte sich um riesige Komplexe, die in Analogie zu den Kulturpalästen als Gastronomiepaläste bezeichnet wurden. 

Eine typische Fabrik-Kantine war drei oder vier Stockwerke hoch, verfügte über ein Untergeschoss mit Kühlräumen und einem Lebensmittellager. Außerdem gab es ein Souterrain mit einer Bäckerei und einem Raum für das Personal. Im Erdgeschoss befanden sich Produktionswerkstätten, ein Labor, eine Garderobe für Besucher, ein Schnellimbiss und ein Lebensmittelgeschäft. Im ersten Obergeschoss befanden sich die Speiseräume und im zweiten Obergeschoss die Festsäle.

Fabrik-Kantinen wurden entweder mit großen, raumhohen Fenstern oder mit Bandverglasung gebaut. Die Säle mussten hell sein, damit die Besucher bei natürlichem Licht speisen konnten. Dies hatte einen ästhetischen Wert und sparte Strom. Die Dächer der Fabrik-Kantinen hatten ein Flachdach, so dass man im Sommer Tische und Stühle darauf stellen konnte, um zu essen.

Die ersten Fabrik-Kantinen

Die erste Fabrik-Kantine wurde 1925 im Gebäude eines ehemaligen Wohnheims eines Textildruckbetriebs in Iwanowo-Wosnesensk (heute Iwanowo) eröffnet. Die Stadt ist immer noch berühmt für ihre Textilindustrie. Während das Gebäude äußerlich unverändert blieb, wurde es im Inneren radikal umgebaut. Die Kochgeräte wurden in Deutschland gekauft und das Gebäude mit Kühlschränken, Aufzügen, Waschmaschinen, elektrischen Wäschetrocknern und Brotschneidemaschinen ausgestattet.

Ende der 1920er Jahre aßen täglich bis zu 600 Menschen aus der Fabrik in Iwanowo zu Mittag und es wurden Fertiggerichte für die acht Werkskantinen zubereitet. Das Projekt wurde als Erfolg gewertet und bald entstanden überall in der UdSSR ähnliche Einrichtungen. 

Berühmt war die 1928 eröffnete Moskauer Fabrik-Kantine Nr. 1 an der Leningrader Chaussee. Das Gebäude lag symbolträchtig gegenüber dem Restaurant Jar, einem beliebten Ausflugsziel der vorrevolutionären Aristokratie und der künstlerischen Intelligenzia. Das Gebäude wurde vom Architekten Alexej Meschkow im Geiste des sowjetischen Modernismus entworfen. In dem Gebäude wurde ein Speisesaal für 1.200 Personen eingerichtet. Darüber hinaus  gab es einen Schnellimbiss für 250 Personen, der zum Frühstück, Mittag- und Abendessen genutzt wurde. Es befanden sich auch noch ein Laden, eine Sparkasse, ein Post- und ein Telegrafenamt in dem Gebäude. Im Jahr 1936 existierten in Moskau 25 Kantinen – zumindest waren so viele im Adressbuch von Moskau aufgeführt.

Auch Leningrad (das heutige St. Petersburg) war keine Ausnahme – 1930 wurden hier gleich vier Fabrik-Kantinen eröffnet. Die größte – mit einer Fläche von über 20.000 m² – war der Komplex im Stadtbezirk Kirowskij, der die Arbeiter der Fabrik Krasnyj Putilowjez versorgte.

Eine Fabrik in Form von Hammer und Sichel

1929 beschloss die Stadtverwaltung von Samara, eine Fabrik-Kantine für das Rüstungswerk Maslennikow zu bauen. Die erste sowjetische Architektin, Jekaterina Maximowa, die zu diesem Zeitpunkt bereits an ähnlichen Gebäuden in Moskau und anderen Städten gearbeitet hatte, wurde mit dem Projekt betraut.

Maximowa war der Meinung, dass „die Fabrik-Kantine in Zukunft... die Frauen von langweiligen Haushaltspflichten befreien und ihnen die Möglichkeit geben [wird], ein erfülltes Leben zu führen und sich gleichberechtigt mit den Männern zu entfalten.“

Sie entwarf ein zweistöckiges Gebäude im Stil des Konstruktivismus in Form von Hammer und Sichel, dem sowjetischen Symbol für die Einheit von Arbeitern und Bauern. Es wurde 1918 von dem Künstler Jewgenij Kamsolkin erdacht und ist später Teil des Wappens der Sowjetunion geworden. Bei Maximowa diente die ungewöhnliche Form dazu, das Gebäude funktional zu unterteilen.

Der „Hammer“ im Erdgeschoss beherbergte die Küche und die technischen Einrichtungen, während die „Sichel“ die Garderobe und drei Kantinen beherbergte: für Kinder, Arbeiter und Angestellte. Ein Förderband transportierte das Essen aus der Küche im „Hammer“ zu den Speisesälen in der „Sichel“. Der Tagesdurchsatz lag bei 9.000 Mahlzeiten, wobei 3.000 Portionen als Halbfertigprodukte zubereitet wurden.

Im ersten Obergeschoss befanden sich die technischen Einrichtungen und Büros für das Personal.

Sechs Treppen verbanden die Stockwerke, die Treppenhäuser waren mit farbigen Glasfenstern ausgestattet. Auf dem Dach wurde eine Terrasse errichtet, auf der man im Sommer speisen konnte. Neben den Speisesälen beherbergte das Gebäude auch eine Verkaufsstelle für Halbfertigprodukte, eine Bibliothek, ein Postamt und eine Sportschule.

Haben sich die Fabrik-Kantinen durchgesetzt?

Fabrik-Kantinen als Verpflegungseinrichtungen hatten eine Reihe von Vorteilen gegenüber dem Kochen zu Hause oder dem Essen in einem kleinen Restaurant: Der Großhandelseinkauf der Lebensmittel und die hohe Produktivität mit maschinellen Kochmethoden ermöglichten die Produktion von Mittagesgerichten zu Preisen wie bei der Zubereitung zu Hause und das bei einer erheblichen Zeitersparnis. Und während die Arbeiter früher in den Mittagspausen einfach nur belegte Brote und andere von zu Hause mitgebrachte Speisen aßen, nahmen nun alle in den hellen Kantinen nach einem einheitlichen Standard zubereitete Mahlzeiten ein.

Trotz aller Vorteile war der Bau von Fabrik-Kantinen Mitte der 1930er Jahre abgeschlossen. Der Bau der riesigen Gebäuden mit Hightech-Ausstattung war teuer. Die Rentabilität war gering, etwas besser erging es jenen Fabrik-Kantinen, die in großen Mengen Mahlzeiten an die Kantinen anderer Fabriken verkauften. Tatsächlich begannen viele Betriebe zu dieser Zeit, selbst Kantinen zu eröffnen und ihre Mitarbeiter mit Essen zu versorgen. Auch die Lebensmittelindustrie entwickelte sich zu dieser Zeit aktiv und die UdSSR begann mit der Herstellung von Konserven, die auch das Kochen zu Hause erleichterten. Eine völlige Abkehr von hausgemachtem Essen fand nicht statt. 

Die Fabrik-Kantinen waren bis zum Zusammenbruch der UdSSR in Betrieb. In den 1990er Jahren kehrte die Privatwirtschaft zurück und die geringe Rentabilität der Fabrik-Kantinen war dem Privatsektor ein Dorn im Auge. In den früheren Fabrik-Kantinen wurden nun Ladengeschäfte eröffnet, die einen größeren Gewinn versprachen.