Während des Nürnberger Prozesses kam es bei der Vernehmung von Fritz Sauckel, dem Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz im Rahmen des Vierjahresplanes, zu einem Zwischenfall unter den sowjetischen Dolmetschern. Der Angeklagte Sauckel wurde unruhig und begann zu schreien, während der stellvertretende Chefankläger der USA, Thomas Dodd, immer mehr Beweise für seine Schuld vorbrachte. Beide taten dies so emotional, dass sich ihre Gefühle auf die sowjetischen Dolmetscher übertrugen.
So beschreibt es Tatjana Stupnikowa, die damals Sauckel dolmetschte, in ihrem Buch: „...Wir sprangen von unseren Stühlen auf, die in der Kabine der Dolmetscher standen und ich begann einen lauten, scharfen Dialog mit meinem Kollegen, der dem Dialog zwischen dem Staatsanwalt und dem Angeklagten entsprach. <...> Mein Partner drückte meinen Arm oberhalb des Ellenbogens fest zusammen und wiederholte, zu mir gewandt, genauso laut wie der aufgeregte Staatsanwalt, nur auf Russisch: „Sie sollten gehängt werden!“ Und ich weinte wegen des Schmerzes in meinem Arm, ebenso wie Sauckel, der zurückschrie: „Ich sollte nicht hängen! Ich bin ein Arbeiter, ich bin ein Seemann!“
Diese Szene wurde durch den Vorsitzenden des Gerichts, den Briten Lawrence Jeffrey, unterbrochen, der sagte: „Mit den russischen Dolmetschern ist etwas passiert. Ich schließe die Sitzung.“
Bis zum internationalen Tribunal für NS-Verbrecher in Nürnberg gab es vor Gericht keine Simultanübersetzung, sondern nur eine schriftliche und eine mündliche. So war dieser historische Prozess, der fast ein Jahr dauerte – vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 – eine echte Herausforderung für die Dolmetscher, denn das Simultandolmetschen erfolgt zeitgleich mit der Wahrnehmung der Aussage des Sprechers.
Im Sommer 1945 beschloss die Potsdamer Konferenz, Deutschland in vier Besatzungszonen aufzuteilen. Nürnberg kam unter die Kontrolle der USA und amerikanisches Personal war im Tribunal tätig. Aus diesem Grund kam die sowjetische Delegation, wie sich Teilnehmer des Prozesses erinnern, ohne Dolmetscher vor Ort an. Man hatte erwartet, dass die Amerikaner selbst für die Übersetzung in die vier Sprachen – Russisch, Deutsch, Englisch und Französisch – sorgen würden. Die Annahme erwies sich jedoch als falsch. Die Suche nach Personal wurde eilig dem NKWD, dem sowjetischen Geheimdienst, übertragen. Es gelang dem Volkskommissariat in kurzer Zeit, Spezialisten zu finden, die kurz vor Beginn des Tribunals nach Nürnberg gebracht wurden.
Das Ausbildungsniveau der sowjetischen Dolmetscher war unterschiedlich. Neben zertifizierten Dolmetschern gab es auch Lehrer, Wirtschaftswissenschaftler und Nachkommen von Einwanderern, die von Kindesbeinen an in mehreren Fremdsprachen unterrichtet worden waren.
Arbeitsbedingungen und psychische Belastung
Eine wichtige Voraussetzung für die Arbeit des Synchrondolmetschers ist eine schalldichte Kabine, denn Fremdgeräusche lenkten ihn von seinen Aufgaben ab. Bei dem Nürnberger Prozess waren diese Voraussetzungen nicht gegeben. Dort war das „Aquarium“, der Arbeitsplatz der Synchrondolmetscher, nach oben hin offen, hatte auf drei Seiten eine Glaswand und befand sich in unmittelbarer Nähe zu den Bänken der Angeklagten. Dies spielte eine besondere Rolle, da es für die Dolmetscher wichtig war, das Verhalten der Personen zu beobachten, die sie dolmetschten.
Von außen sah die Kabine aus wie ein Glasaquarium, daher der Name. Das „Aquarium“ bestand aus vier Kabinen mit jeweils drei Plätzen. Jeder Dolmetscher hatte seinen eigenen Kopfhörer, aber es gab nur ein Mikrofon in der Kabine, das sich die Dolmetscher gegenseitig reichten.
Die Arbeit von Synchrondolmetschern ist an sich schon anstrengend, denn man muss zuhören, verstehen und die eingehenden Informationen parallel zur Rede des Sprechers übersetzen, ohne ein einziges Detail zu verpassen. Die Prozesse gegen die NS-Verbrecher waren jedoch auch psychologisch anspruchsvoll, da die grausamen Details der NS-Verbrechen ans Licht kamen.
Die Feinheiten der Arbeit eines Synchrondolmetschers
Die sowjetischen Dolmetscher hatten eine Menge Arbeit. Die deutschen Dolmetscher hatten ein besonders hohes Arbeitspensum zu bewältigen, da deutsche Angeklagte, deutsche Anwälte und Zeugen, von denen die meisten ebenfalls Deutsche waren, gedolmetscht werden mussten.
Die englischen Dolmetscher hatten etwas weniger zu tun: Sie mussten die englischen und amerikanischen Staatsanwälte und Richter übersetzen, darunter auch Geoffrey Lawrence, den Präsidenten des Tribunals.
Französisch hingegen war weitaus seltener zu hören und die Dolmetscher saßen meist im „Aquarium“ und warteten schweigend auf eine Erwiderung in dieser Sprache.
Einmal schickte Moskau eine Deutschlehrerin von der juristischen Fakultät der Moskauer Staatsuniversität als Dolmetscherin. Im Gerichtssaal bekam sie einen Schock wegen eines Satzes von Dr. Otto Stahmer, dem Anwalt Hermann Görings. Auf die Frage des Gerichtspräsidenten, wie lange der Anwalt für die Vorlage der Unterlagen und das Schlussplädoyer seines Mandanten benötigen würde, antwortete er: „Doktor Stahmer – sieben Stunden“. Dabei sprach er das „st“ mit plattdeutschen Dialekt aus, da er aus Hamburg stammte. Als die Dolmetscherin dies vernahm, wiederholte sie immer wieder: „Für diese Art von Fehlern gebe ich meinen Studenten eine Sechs.“
Es gab Gelegenheiten, bei denen die Angeklagten die Dolmetscher korrigierten. So ermahnte beispielsweise Alfred Rosenberg, Leiter des Außenpolitischen Amtes der NSDAP, der gut Russisch konnte, die deutsche Frau, die aus dem Russischen dolmetschte. „Nicht Bilder mit der Darstellung Gottes, sondern Ikonen – Ikonen, mein Gott!“, sagte er in reinem Russisch. Die Dolmetscherin bekam es mit der Angst zu tun und wurde durch einen sowjetischen Dolmetscher ersetzt.
Gegenseitige Hilfe
Die Ausführungen des Redners konnten eine Stunde oder länger dauern, so dass der Dolmetscher, der diese Sprache beherrschte, mit höchster Konzentration arbeitete, während die beiden anderen nur mit einem halben Ohr zuhören mussten, um nicht eine kurze Bemerkung in ihrer Arbeitssprache zu verpassen.
Arkadi Poltorak, Leiter des Sekretariats der sowjetischen Delegation beim Militärtribunal, erinnerte sich in seinen Memoiren: „Die amerikanischen, britischen und französischen Dolmetscher lasen in solchen Situationen gewöhnlich ein unterhaltsames Buch oder ruhten sich einfach aus. Unsere Leute haben dem Redner fast immer zugehört und ihren im Einsatz befindlichen Kollegen nach besten Kräften unterstützt.“
Selbst die erfahrensten Dolmetscher übersetzen logischerweise mit einem gewissen Zeitversatz. Wenn der Redner vom Podium aus eine große Anzahl von Namen oder Zahlen aufzählte, schrieben die sowjetischen Dolmetscher alles auf einen Zettel, damit ihr im Einsatz befindlicher Kollege die Notizen im richtigen Moment ablesen konnte.
Diese Form der Kameradschaft griff später auf andere Delegationen über. Poltorak stellte fest, dass dies „ein kleiner, aber immerhin ein Triumph unserer Moral“ gewesen sei.
Außerdem gingen die sowjetischen Dolmetscher nach ihrem Arbeitstag ihren Kollegen zur Hand, denn die Menge an schriftlicher Arbeit war enorm und es fehlte an Personal. Die sowjetische Delegation verfügte nur über etwa 40 Dolmetscher, während die US-Delegation mindestens 640 hatte.