Paulus: Wie ein Feldmarschall der Wehrmacht zum Trumpf der Sowjetunion beim Nürnberger Prozess wurde

Legion Media
Der Generalfeldmarschall der Wehrmacht Friedrich Paulus wurde nach der Schlacht von Stalingrad im Januar 1943 für tot gehalten. Im Februar 1946 tauchte er jedoch zur völligen Überraschung der Anwesenden im Gerichtssaal in Nürnberg auf. Warum erschien Paulus bei dem Prozess auf Seiten der UdSSR?

Seit Ende Januar 1943 galt Friedrich Paulus in Deutschland als tot. Die Nazi-Propaganda wollte verhindern, dass die Deutschen erfuhren, dass er sich während der Schlacht von Stalingrad (17. Juli 1942 - 2. Februar 1943) den Sowjets ergeben hatte. Adolf Hitler inszenierte sogar ein symbolisches Begräbnis für den deutschen Feldmarschall und legte persönlich einen Marschallstab auf den Deckel seines leeren Sarges.

Stalins „persönliche Trophäe“

Mitte Januar 1943 wurde die Lage der deutschen 6. Armee in Stalingrad kritisch. Die einst stärkste Armee der Wehrmacht verlor ihre Kampfkraft. Am 28. Januar waren ihre Überreste in drei Teile geteilt. Die Sowjets unterdrückten erfolgreich den deutschen Widerstand.

Feldmarschall Friedrich Paulus wird von der Roten Armee während der Schlacht um Stalingrad gefangen genommen, 31. Januar 1943.

Paulus sendete immer wieder Funksprüche an den Führer und bat um die Erlaubnis, sich zu ergeben, um das Leben der Soldaten zu retten. Alle Anträge wurden jedoch kategorisch abgelehnt. Am 30. Januar sandte Hitler einen Funkspruch an das Paulus-Hauptquartier, in dem er dem Offizier den Rang eines Generalfeldmarschalls verlieh und ihm unter anderem mitteilte, dass „noch nie ein deutscher Feldmarschall in Gefangenschaft geraten ist“. Damit wurde einmal mehr deutlich, dass der Kommandeur Selbstmord begehen sollte, wenn die Schlacht von Stalingrad verloren ginge. Dies war der letzte Strohhalm. Die Legende besagt, dass Paulus, nachdem er dieses Radiogramm gelesen hatte, zu seinen Untergebenen sagte: „Er will, dass ich mich erschieße, aber ich werde ihm diese Freude nicht bereiten.“

Am nächsten Tag, dem 31. Januar, wies er einen Untergebenen an, mit den Sowjets Kontakt aufzunehmen, um die Kapitulation auszuhandeln. Am selben Tag nahmen die Soldaten der 64. Armee der Roten Armee den Kommandeur der 6. Armee der Wehrmacht und dessen gesamten Stab gefangen.

Feldmarschall Paulus trifft sich am 4. Februar 1943 mit Generaloberst Heitz und anderen deutschen Offizieren, die in Stalingrad gefangen genommen wurden.

Die Niederlage der 6. Armee und vor allem ihre Kapitulation hatten eine überwältigende Wirkung auf den Führer. Die Behörden versuchten, den Bürgern die Tatsache zu verheimlichen, dass die Sowjets massenhaft deutsche Soldaten gefangen genommen hatten. In Deutschland wurde eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen. Hitler ordnete ein symbolisches Begräbnis für Paulus an, bei dem er auf den Deckel dessen leeren Sarges den Feldmarschallstab legte, den Paulus jedoch nie erhalten hatte.

Und die sowjetische Führung stand vor der schwierigen Aufgabe, den deutschen Feldmarschall zur Kooperation zu bewegen. Diese spezielle Operation wurde Satrap (dt.: Statthalter) genannt.

Operation Satrap

In der damaligen deutschen Armee gab es keine bedeutendere Person als Friedrich Paulus. Er wurde sowohl von seinen Offizierskollegen und Untergebenen als auch vom Reichskanzler selbst respektiert. Paulus war einer derjenigen, die an der Ausarbeitung des strategischen Plans Barbarossa für den Angriff und die Niederlage der UdSSR beteiligt waren. Deshalb war es für die sowjetische Führung äußerst wichtig, dass er seine Überzeugungen aufgab und begann, mit den sowjetischen Behörden zu kooperieren.

Hitler im Gesprächmit Generaloberst Maximilian Frhr. v.Weichs am Kartentisch; im Hintergrund die Generäle Adolf Heusinger und Friedrich Paulus (von links)

Der radikale Wandel in den Ansichten des deutschen Befehlshabers kam im Sommer 1944, als er zwei Nachrichten erhielt. Die erste war der Tod seines Sohnes, eines seiner Zwillinge, Hauptmann Friedrich Paulus jr. im Februar 1944 in Italien. Die zweite war die Hinrichtung der Verschwörer gegen Hitler am 20. Juli desselben Jahres (der direkte Ausführer des Attentats auf den Führer war der berühmt gewordene Oberst Klaus von Stauffenberg). Mehrere Wehrmachtsoffiziere, die an dem Komplott beteiligt waren, Paulus nahe standen und seine Ansichten teilten, wurden hingerichtet. Der ehemalige Feldmarschall erkannte, dass es das Risiko wert war, wenn sich diese Männer gegen Hitler stellten.

Die sowjetischen Behörden hatten Gegenpropaganda betrieben, die sich gegen die von den Nazis verbreiteten falschen Informationen über den angeblichen Tod des Feldmarschalls in Stalingrad richtete. Bereits seit August 1944 sendete der Moskauer Rundfunk in deutscher Sprache Paulus’ Appell an das deutsche Volk. Darin rief der ehemalige Feldmarschall seine Landsleute dazu auf, „Adolf Hitler zu beseitigen und eine neue Regierung einzusetzen, die den Krieg beendet“ und „friedliche und freundschaftliche Beziehungen zum jetzigen Feind“ wiederherstellt. Darüber hinaus wurden Flugblätter mit dem Text des Aufrufs des deutschen Befehlshabers an Wehrmachtsstellungen verstreut. So wurde Paulus zu einem der aktiven Propagandisten im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Er schloss sich dem Komitee Freies Deutschland in der Sowjetunion an, das von der Kommunistischen Partei Deutschlands initiiert wurde, um mit den gefangenen deutschen Offizieren zu arbeiten.

Paulus’ Ankunft in Nürnberg

Bereits 1942 schlug die UdSSR die Einberufung eines internationalen  Sondertribunals  vor, um die Führer Nazideutschlands, die sich während des Krieges bereits in den Händen der Behörden der gegen Hitlerdeutschland kämpfenden Staaten befanden, vor Gericht zu stellen und „mit der vollen Härte des Strafrechts zu bestrafen“.

Zum Zeitpunkt der Gefangennahme von Paulus liefen die Verhandlungen über die Einrichtung eines internationalen Tribunals, die jedoch aufgrund der unterschiedlichen Positionen der Alliierten (Großbritannien und die USA auf der einen Seite und die UdSSR auf der anderen) keine großen Fortschritte machten.

Am 23. April 1945, gegen Ende des Krieges, schlug Großbritannien zum Beispiel die Hinrichtung von Verbrechern ohne Gerichtsverfahren vor. Man glaubte, dass die Verteidiger die Nazis theoretisch entlasten könnten. Die eigentlichen Verhandlungen zwischen der UdSSR, den USA, Großbritannien und Frankreich über die Einsetzung eines Tribunals hatten am 26. Juni begonnen und bis zum 8. August 1945 gedauert. Am Ende der Verhandlungen wurde schließlich beschlossen, ein Tribunal einzurichten, das am 20. November 1945 in Nürnberg eröffnet wurde.

Artilleriemarschall Nikolai Woronow (Mitte), ein Vertreter des Oberkommandos, und Generaloberst Konstantin Rokossowski (links), Befehlshaber der Donfront, verhören Feldmarschall Friedrich Paulus.

Ein Jahr später, im Herbst 1946, geriet der Prozess jedoch ins Stocken. Auf Seiten der Verteidigung und der Angeklagten selbst kamen Ideen auf, dass der deutsche Angriff auf die UdSSR eine Präventivmaßnahme gewesen sei. Bereits am 22. Juni 1941, am Tag des Angriffs auf die Sowjetunion, rechtfertigte Hitler selbst über den Rundfunk den Kriegsausbruch vor dem deutschen Volk: „Niemals hat das deutsche Volk gegen die Völkerschaften Russlands feindselige Gefühle gehegt. Allein seit über zwei Jahrzehnten hat sich die jüdisch-bolschewistische Machthaberschaft von Moskau aus bemüht, nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa in Brand zu stecken.“

Um das Gerücht eines präventiven Angriffs Nazi-Deutschlands auf die UdSSR zu zerstreuen, legte die sowjetische Delegation in Nürnberg Abschriften von Paulus’ Verhör in Moskau vor. Die Verteidigung der Angeklagten bezeichnete jedoch alle Dokumente als Fälschungen und die Niederschrift selbst als fabriziert.

Die sowjetischen Behörden beschlossen unter strenger Geheimhaltung, den ehemaligen Feldmarschall nach Nürnberg zu bringen, damit er dort aussagen könne. Für Paulus wurde eigens für seine Reise nach Nürnberg ein Anzug genäht. Dies war auch ein wichtiger Teil der Vorbereitungen für seinen Auftritt im Gerichtssaal.

Enwer Mammadow (links), Friedrich Paulus (rechts).

Paulus’ Ankunft in Nürnberg wurde streng geheim gehalten, auch vor den Amerikanern, obwohl die Stadt in der amerikanischen Besatzungszone lag. Um den ehemaligen Feldmarschall nach Nürnberg zu schmuggeln, wurde Enwer Mammadow, ein Dolmetscher der sowjetischen Delegation, der Paulus ähnelte, eingeschleust. So fuhren zwei Autos mit Männern in gleichen Anzügen und identischen Hüten auf dem Rücksitz durch die amerikanischen Armeeposten an der Grenze zur sowjetischen Besatzungszone. Im ersten Wagen fuhr Mammadow, der die Folgen eines möglichen Attentats tragen sollte, während im zweiten Wagen Paulus saß, mit gefälschten Dokumenten, damit er im Falle seines Todes nicht identifiziert werden konnte.

Die Wirkung der explodierenden Bombe

Am 11. Februar 1946 behauptete die nationalsozialistische Täterseite erneut, Paulus’ Aussage sei „fabriziert oder unter Druck und Folter in den Zellen des NKWD gemacht worden“. Daraufhin fragte der Oberste Richter Geoffrey Lawrence den sowjetischen Staatsanwalt Roman Rudenko:

„Wie viele Tage würde es dauern, wenn sich die Sowjets bereit erklärten, Paulus nach Nürnberg auszuliefern?“

Es war an der Zeit, die Trumpfkarte zu ziehen. Rudenko antwortete Lawrence lässig:

„Dreißig Minuten. Paulus befindet sich in der Residenz der sowjetischen Delegation hier in Nürnberg.“

Friedrich Paulus, Feldmarschall im Zweiten Weltkrieg und Befehlshaber der 6. Armee in Stalingrad, sagt bei den Nürnberger Prozessen 1946 vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg aus.

Ein Mann in einem neuen Anzug und polierten Stiefeln betrat die Halle. Es war wie die Explosion einer Bombe. Auch wenn alle Anwesenden davon ausgingen, dass Paulus noch lebte, so hatte doch niemand damit gerechnet, dass er auf so spektakuläre Weise auftauchen würde.

Die Anwesenheit des ehemaligen Feldmarschalls im Gerichtssaal war die größte Sensation seit Beginn des Tribunals. Die Journalisten, die über den Prozess berichteten, begannen sofort, diese Informationen an ihre Redaktionen weiterzugeben.

Zu Beginn des Verhörs erklärte Paulus, dass er Anfang September 1940, als er „im Generalstab des Generalkommandos der Landstreitkräfte als Oberquartiermeister zu arbeiten begann“, „neben anderen Akten eine unvollendete Operationsplanung für einen Angriff auf die Sowjetunion“ gefunden habe.

Feldmarschall Friedrich Paulus. Nürnberger Prozess.

Ursprünglich hatte der Führer geplant, die Sowjetunion Mitte Mai 1941 anzugreifen, aber dieser Plan, so Paulus, „wurde geändert, weil Hitler Ende März aufgrund der veränderten Lage in Jugoslawien beschlossen hatte, Jugoslawien anzugreifen. Außerdem erklärte der Kommandeur, dass „alle Vorbereitungen für einen Angriff auf die Sowjetunion, der am 22. Juni stattfand, im Herbst 1940 getroffen worden waren.

Paulus beschrieb alles sehr detailliert, so dass man ihm seitens der Angeklagten weder Unkenntnis über die Einzelheiten des Vorgangs noch Schwachsinn vorwerfen konnte. Am nächsten Tag nahm die Verteidigung den ehemaligen Feldmarschall ins Kreuzverhör, konnte aber keine Widersprüche in seinen Aussagen finden.

Dank der Anwesenheit von Friedrich Paulus bei dem Prozess und seiner Aussage konnte die sowjetische Delegation beweisen, dass der Angriff auf die UdSSR von der Naziführung im Voraus geplant worden war. Damit hatten die Nazi-Verbrecher keine Chance mehr, sich zu entlasten.

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