Der Ballettchef am Bolschoi-Theater Sergej Filin mit seiner Frau nach der Entlassung aus der Moskauer Klinik. Foto: RIA Novosti
Russland HEUTE: Die Attacke auf Sie bestürzte die ganze Welt. Haben die Attentäter Ihr Gesicht stark verletzt? Machen Sie sich Sorgen darüber, wie Sie wohl einmal aussehen werden?
Sergej Filin: Mir bereitet mein äußeres Erscheinungsbild kein besonderes Kopfzerbrechen. Schönheit wohnt nicht im Gesicht. Ich werde derselbe
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Sergej Filin sein wie vorher auch. Wer mich kennt, wird mir hoffentlich nicht den Rücken kehren, wenn er sieht, dass meine Haut ein bisschen gelitten hat und ich kaum mehr etwas sehe. Ich verspreche auch, dass alle unsere neuen Ballettstücke auf die Bühne kommen. Vielleicht kann ich sie nicht mehr sehen, aber ich werde sie hören.
RH: Ihre Freunde beschreiben Sie als einen unerschrockenen Kämpfer; selbst im Krankenhaus setzen Sie Ihre Arbeit fort. Wie schaffen Sie das?
S.F.: Bisweilen lege ich meine Hand aufs Herz und frage mich: „Ist es schwer, Sergej?" Ja, das ist es. „Tut es weh, Sergej?" Oh ja, das tut es. „Wirst Du diese schwere Zeit überstehen?" Selbstverständlich werde ich das. Sie ist nur eine weitere Herausforderung, an der ich meine Stärke unter Beweis zu stellen habe. Ich werfe mir allerdings vor, so unvorsichtig mit meiner eigenen Sicherheit gewesen zu sein. Seit Dezember vergangenen Jahres habe ich zunehmend negativ motivierte, gegen mich gerichtete Bewegungen und Feindseligkeit bemerkt.
RH: Anatoli Ixanow, Generaldirektor des Bolschoi-Theaters, sagte in einem Interview mit Newsweek, dass einige Leute in den vergangenen zwei Jahren daran gearbeitet hätten, Unfrieden ins Theater zu bringen. Wer sind diese Leute? Haben Sie irgendjemanden im Verdacht?
S.F.: Schon kurz nachdem ich 2011 als Ballettdirektor im Bolschoi angefangen hatte, bemerkte ich die angespannte Atmosphäre im Theater und in dessen Umfeld. Da wimmelte es vor Intrigen und undichten Stellen, durch die kompromittierende Informationen nach außen, an die Medien und ins Internet gelangten. Mir war, als wenn jemand aus dem obersten Management des Hauses es darauf anlegen würde, uns zu verletzen und kaputtzumachen. Ich bin davon überzeugt, dass nicht nur zwei oder drei Personen dahintersteckten, sondern eine große Gruppe von Personen gemeinsam alles daran setzte, die Kathedrale der Kunst zu diskreditieren.
RH: Ein paar Hacker haben vergangenes Jahr Ihr privates E-Mail-Konto geknackt und Briefe veröffentlicht, in denen Sie einige Bemerkungen von Nikolai Ziskaridse, einem Ihrer Startänzer, kritisierten. Verdächtigen Sie Ziskaridse, den Anschlag auf Sie beauftragt zu haben?
S.F.: Wir werden die Wahrheit schon sehr bald erfahren. Leider habe ich vorher keine Nachforschungen angestellt. Aber mir war immer klar, dass ich an zwei Fronten zu kämpfen hatte: Ich musste Spitzenleistungen im Ballett liefern und zugleich aufpassen, nicht erpressbar zu werden durch meine Gegner, die nur auf die Gelegenheit warteten, intime Fotos von mir ins Netz stellen zu können wie zum Beispiel Nacktfotos oder Fotos mit Cindy Crawford in einer Sauna. Wir sahen uns ständig irgendwelchen Provokationen ausgesetzt. Jemand musste unsere Tänzer dafür bezahlt haben, Konflikte vom Zaun zu brechen, kleinere Revolten zu inszenieren, mich öffentlich und hinter den Kulissen anzugreifen.
RH: Neid hat das russische Ballett in der Vergangenheit vergiftet, im sowjetischen Theater aber gab es keine Versuchung durch das große Geld. Warum glauben Sie, dass bei diesen Vorkommnissen Geld im Spiel war?
S.F.: Das wurde mir vor einem halben Jahr bewusst. Die Polizei zeigte mir ein USB-Flash-Laufwerk mit allen meinen privaten Briefen. Es stellte sich heraus, dass Hacker aus Tscheljabinsk gegen ein Honorar von etwa 150 Euro meinen privaten E-Mail-Account geknackt hatten. Wer sie damit beauftragt hatte, blieb allerdings im Dunklen. Meine Widersacher veröffentlichten einige meiner Briefe auf meiner Facebook-Seite. Merkwürdigerweise fragten mich an diesem Tag sieben Personen, von denen einige wohl in die Schmutzkampagne gegen mich involviert waren, ob ich sie als Freunde auf meine Facebook-Seite aufnehmen könnte.
RH: Die Ermittler befragen Ihre Tänzer täglich. Haben Sie eine Vorstellung von der Person, die dieses Attentat zu verantworten hat?
S.F.: Wenn ich mir ein unbeschriebenes Blatt Papier nehme, versuche ich, mir nicht das Porträt von der Person, die mir Säure ins Gesicht geschüttet hat, vorzustellen, sondern von der, die dieses Verbrechen veranlasst hat. Mit Sicherheit hatte diese Person nie Familie und Kinder. Kein Vater und keine Mutter, ganz gleich wie sehr mit mir verfeindet, würden je meine Chancen zerstören, meine drei Kinder aufwachsen zu sehen. Wahrscheinlich hat diese Person auch keine Eltern. Ein Merkmal dominiert das Porträt: Einsamkeit. Nur ein sehr kranker und einsamer Mensch wäre zu einer solchen Tat fähig. Ich habe einem Pfarrer meine Sünden gebeichtet und versprochen, jedem zu vergeben, der mir Übles wollte.
RH: Denken Sie, dass es genug politischen Willen gibt, den Attentäter zu finden?
S.F.: Mittlerweile könnten sie einen Ertrunkenen mit meinem Foto in seiner Jacke aus der Seine fischen und sagen, dass er es war. Ich würde dem nicht trauen.
RH: Im vergangenen Jahr sammelten Nikolaj Ziskaridse und seine Leute Unterschriften für eine Petition an Wladimir Putin mit der Bitte, Ixanow zu kündigen und Ziskaridse zum Theaterdirektor zu ernennen. Der Kreml aber verlängerte Ixanows Vertrag bis 2013. Kann man den Kreml über die Streitigkeiten des Bolschoi-Managements mit den Startänzern aufklären?
S.F.: Die Spannungen nahmen in der Tat direkt nach der Ernennung Ixanows zu. Wir suchten sowohl mit Wladimir Putin als auch mit dem damaligen Präsidenten Dmitri Medwedjew das Gespräch. Es war uns wichtig, die Konflikte beizulegen, unter denen wir alle in unserem Theater litten. Die Frage ist, ob unsere Behörden globale Probleme des Theaters lösen werden. Wer sind diese Personen, die seit Langem Terror im Bolschoi-Theater verbreiten? Wenn diese Frage nicht aufgeklärt wird, dann werde ich, ein Bürger Russlands, ein Vater und ehrlicher Steuerzahler, mich ernsthaft fragen, was sonst noch alles passieren muss, um eine offizielle Reaktion auf den Plan zu rufen.
Anna Nemzowa ist Korrespondentin der Newsweek und der The Daily Beast in Moskau.
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